München - Die Lösung im Streit schien eigentlich gefunden. Anfang April hatten Versicherer und der bayerische Ableger des Gaststättenverbands Dehoga für sogenannte Betriebsschließungspolicen in der aktuellen Corona-Krise einen Kompromiss vereinbart. Die Policen schützen vor allem Gastronomen vor Umsatzausfall, wenn Behörden wegen Gesundheitsgefahren ihren Betrieb dicht machen. Im aktuellen Fall aber bestritten etliche Versicherungen aber, dass auch die Corona-Pandemie abgedeckt ist. Die Assekuranz wollte in weiten Teilen nicht zahlen. Beim im April in Bayern gefundenen Kompromiss, den immer mehr Versicherer bundesweit übernehmen, komme aber vor allem die Assekuranz gut weg, klagen Betroffene. Nun droht eine Klagewelle verzweifelter Gastronomen.
„Versicherte Betriebe werden weit überwiegend vor Gericht ziehen müssen, um ihr Recht durchzusetzen“, sagen die Anwälte der Düsseldorfer Kanzlei Wilhelm, die allein bereits rund 500 klagewillige Mandanten in dieser Sache vertritt. Denn der angefeindete Kompromiss sieht vor, dass Versicherte nur zwischen zehn und 15 Prozent der in der Police vereinbarten Summen vom Versicherer ausgezahlt bekommen. Rund 70 Prozent der Umsatzausfälle würden durch Staatshilfen kompensiert, argumentiert die Assekuranz. Weitere 15 bis 20 Prozent könnten Wirte dadurch erwirtschaften, dass sie Speisen zum Mitnehmen anböten.
Die Branche droht, zwischen die Stühle zu geraten
Aber diese Rechnung geht nicht auf, kritisieren Betroffene und deren Rechtsanwälte. Zum einen seien staatliche Corona-Darlehen nicht auf Versicherungsleistungen anrechenbar, da sie zurückgezahlt werden müssen. Der Kanzlei Wilhelm liegen zum anderen Stellungnahmen der Bundesagentur für Arbeit vor, wonach ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld abgelehnt wird, wenn Versicherer entstandene Schäden ausgleichen. Auch Kurzarbeitergeld ersetze deshalb keine Versicherungsleistung. Anrechenbar seien einzig nicht rückzahlbare Staatszuschüsse und auch die nur zeitanteilig. Das seien aber nur geringe Summen bei einer Deckelung der Betriebsausfallpolicen auf meist 30 Tage. Damit bekämen Versicherte vom Staat weit weniger als 70 Prozent ihrer Umsatzausfälle ersetzt.
Die Vereinbarung vom April sei ein Versuch, Kunden abzuspeisen, findet die Fachanwaltskanzlei Entringer für Versicherungsrecht im badischen Bad Krozingen. „Das ist ein fauler Kompromiss“, sagt Kanzleichef Daniel Entringer. Er widerspricht auch der Auffassung vieler Versicherer, dass Pandemien von der Police grundsätzlich ausgeschlossen sei und man nur aus Kulanzgründen zahle. Entringer verweist auf ein Rechtsgutachten des früheren Vorsitzenden Richters am Münchner Oberlandesgericht, Walter Seitz. Der kommt zum Schluss, dass ein Anspruch auf Zahlung d bei Betriebsschließungspolicen wegen Untersagung der Öffnung von Gaststätten grundsätzlich uneingeschränkt besteht. Auch die Finanzaufsicht Bafin hat der verzwickte Disput auf den Plan gerufen. „Es gibt eindeutig klare Fälle, die gedeckt sind, und eindeutig ungerechtfertigte Schadenmeldungen, die man nicht zu Lasten des Kollektivs decken kann“, sagt Bafin-Direktor Frank Grund. Darüber hinaus gebe es eine Grauzone. „Unklare Klauseln dürfen nicht zu Lasten der Versicherungsnehmer ausgelegt werden“, sagt Grund.
Das Schadenpotenzial könnte bis zu drei Milliarden Euro betragen
Etwa 20 Versicherer haben in Deutschland die umstrittenen Policen vergeben. Offizielle Statistiken gibt es nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 40 000 Gaststätten eine solche Versicherung haben, wobei einzelne Policen Umsatzausfälle bis in Millionenhöhe decken. Für die Assekuranzbranche wird ein Schadenpotenzial von bis zu drei Milliarden Euro vermutet. Derzeit fordern Versicherer ihre Kunden bundesweit in Schreiben auf, sich mit maximal 15 Prozent Versicherungsleistung zu begnügen und auf weitergehende Ansprüche auch für eine eventuelle zweite Coronawelle zu verzichten. Wer mehr will, müsse klagen, was bis zu einem finalen Urteil Jahre dauern kann.