In Stuttgart haben Fußballfans die Nacht zum Tag gemacht. Am Montagmorgen ist dann Kehraus: Die Stadtreinigung fährt zusätzliche Schichten und setzt mehr Personal ein, um sieben Tonnen Partymüll zu entsorgen.

Stuttgart - Am Morgen nach dem großen Sieg in Rio gibt es in Stuttgart Gewinner, die man zunächst nicht auf der Rechnung hat: Die Flaschensammler machen das Geschäft ihres Lebens. „Das sind mindestens fünfzig Euro, davon kann ich die ganze Woche lang Essen kaufen“, sagt einer von ihnen. Seinen Namen verrät er nicht, aus Angst vor Ärger mit den Behörden wegen seines Zusatzverdiensts. Kurz nach fünf Uhr bewacht der Sammler im Deutschland-Pulli seine Beute – ein Bierkasten voller leerer Flaschen und mehrere Plastiksäcke mit Leergut – und kommt an seine Kapazitätsgrenze: „Ich habe keine Kästen mehr, nur den einen, wie soll ich denn nun weitermachen?“ fragt er.

 

Der Flaschensammler ist seit kurz nach Spielende unterwegs – so lange wie die letzten Fans, die zu den Haltestellen taumeln. Die Fans waten stellenweise knöcheltief durch Müll: Plastikbecher, Pizzakartons, zerfetzte Regenschirme. Eine Kehrmaschine schluckt den Dreck, ein Radfahrer flucht: Scherben haben seinen Hinterreifen zerstört. Hinter den am Straßenrand zusammengestellten Hamburger Gittern vorm Burger-Grill übergibt sich ein Fußballfan im Ballack-Trikot. Zwei junge Männer – Klose und Lahm steht auf ihren Rücken – finden es urkomisch, vor den Augen der Straßenkehrer Glasflaschen zu zertreten. „Das ist für uns richtig ärgerlich“, sagt Annette Hasselwander, die Sprecherin der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS). Ganze Flaschen bekommen die Männer von der Stadtreinigung gut weg. Scherben setzen sich in Fugen fest, bleiben lange als Überbleibsel der wilden Nacht erhalten.

Das Ziel der Feiernden ist die Theo – die Partymeile

In der Siegerstunde nach dem Schlusspfiff kennt der Strom der Massen nur ein Ziel: die Theodor-Heuss-Straße. Vor einem Asiaten stehen die Menschen noch nudelschlürfend und biertrinkend am Fernseher, da zwingt ein Chor von Feierbiestern die Welt um sie herum schon „auf die Knie“ – beleuchtet vom Blitzlichtgewitter der Handykameras. „Humba, Humba, Humba, Tätära“ ist in dieser Nacht der Lieblingsjubel der Weltmeisterfans. Ein argentinischer Fan im Crespo-Trikot kann nur noch benommen durch den Trubel schreiten.

Für das Fußvolk wird die Theo im Fest der Freude zur Partyarena, mehrere Zehntausende sind in der Stadt unterwegs. Rings herum bahnt sich ein Autokorso seinen Weg, zwischen 2500 und 3000 Fahrzeugen sind laut Polizei beteiligt. Diese zeigt Präsenz, greift aber nur selten ein, bei wenigen Einsätzen hat man Beamte so nachhaltig lächeln gesehen. Die Fans zünden Böller und Bengalos, einige Wagemutige bauen Verkehrsschilder ab, steigen auf Laternen und Ampeln, eine wird beschädigt, auch ein Elektrosmart muss dran glauben: Einmal aufs Dach und wieder auf die Räder – Totalschaden. Die Polizei zieht dennoch eine positive Bilanz: „Für die Menge an Menschen in der Stadt ist erstaunlich wenig passiert“, sagt der Polizeisprecher Olef Petersen. Elf Fälle von Körperverletzung werden aufgenommen. „Das haben wir an einem normalen Wochenende auch.“

Erste Kehrmaschinen kurven nachts durch die Straßen

Auf der Königstraße geht es um halb zwei wesentlich ruhiger zu, sie ist der Ort, um das Unfassbare zu fassen zu versuchen. Pärchen tauschen Zärtlichkeiten aus, erste Kehrmaschinen sind im Einsatz, vor dem Da Vinci am Schlossplatz darf Mario Götze noch etwas zum Spiel sagen, dann zieht ein Mitarbeiter den Stecker des Fernsehers.

Ein Ende der Party auf der Theo ist zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht. Am Palast der Republik hüpfen die Menschen Schulter an Schulter, denn „wer nicht hüpft, der ist kein Deutscher“. Replikate des WM-Pokals sind das Objekt der Begierde. Eines davon gehört einem Mittzwanziger im Hummels-Trikot, der darauf besteht, Toto Schillaci genannt zu werden. „Das Ding war sauteuer“, sagt er. Aber Tage wie dieser erfordern Opfer. „Ich habe den Pokal im selben Moment wie Philipp Lahm in die Höhe gestemmt. Das war schön.“ Etwas abseits sitzt Uwe Schmied auf dem Bordstein und genießt. „1974 bin ich zum Finale nach München gefahren und habe für 19 Mark eine Karte fürs Stadion bekommen“, erzählt der 59-Jährige. „Aber das, was heute Nacht hier los ist, ist der Hammer.“

In den Fressbuden der Stadtmitte rotieren Mitarbeiter und Dönerspieße auch nach drei noch im Akkord. „Ich habe hier drin noch nie so viele Deutsche gesehen“, scherzt ein Mann in der Schlange. Die Reste der Mahlzeit landen auf dem Boden. Als gegen fünf Uhr die Theodor-Heuss-Straße wieder so weit geräumt ist, dass die Verkehrssicherheit zurückkehrt, beginnen die Aufräumarbeiten. 35 Kubikmeter Müll sammelt die AWS ein, das sind rund sieben Tonnen Dreck. Insgesamt sind drei Kehrmaschinen und sieben Straßenreinigungswarte zusätzlich im Einsatz.

Dem Flaschensammler missfallen die Müllberge

Der Flaschensammler schaut trotz der schnellen Aufräumarbeiten mit gemischten Gefühlen auf die Müllberge. Obwohl der Mann das Geld für eine Woche eingesammelt hat, ist er nicht glücklich über das, was um ihn herum passiert ist. „Das ist doch eine Katastrophe, wie es hier aussieht“, sagt er. Andere sehen das nicht so eng. Deutschland ist Weltmeister – die Nacht wird in Erinnerung bleiben.