Der Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern hat nach über 100 Jahren noch immer große politische Brisanz. In Bad Cannstatt musste die Polizei nach einer Terrorwarnung eine Kirche räumen.

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Der Hinweis aus Kreisen der Sicherheitsbehörden ist sehr konkret. Und die Stuttgarter Polizei hat am Mittwochabend nicht viel Zeit für eine Entscheidung. Man könnte sagen, dass es um Minuten geht. Das Gedenken an den Völkermord an Armeniern im Jahr 1915 ist noch immer hoch brisant – und ganz offensichtlich steht der Jahrestag des 24. April ganz oben auf der Liste unbekannter Attentäter. Ein möglicher Anschlag auf die Lutherkirche in Bad Cannstatt steht im Raum – und die Polizeizentrale ruft Terroralarm aus. 18 Streifenwagenbesatzungen sorgen am Mittwochabend für Sicherheit.

 

Es sollte eine Gedenkveranstaltung für die bis zu 1,5 Millionen armenischen Opfer werden, die vor 104 Jahren umgebracht wurden. Die Türkei sieht sich dafür zu Unrecht an den Pranger gestellt, will nichts von einem Genozid wissen, auch wenn der Deutsche Bundestag inzwischen von Völkermord spricht. Diradur Sardaryan, Pfarrer der Armenischen Gemeinde Baden-Württemberg, hatte sich schon auf den Start des Gedenkgottesdienstes um 19 Uhr vorbereitet. „Doch kurz davor, zehn Minuten vielleicht, kam die Polizei“, sagt der Geistliche. Beamte in Schutzwesten, mit Helm und Maschinenpistolen. Die Ausrüstung, die im Fall einer sogenannten Bedrohungslage, eingesetzt wird. Die Kirche an der Waiblinger Straße, 1900 erbaut, wurde weiträumig abgesperrt.

Die Sprengstoffsuchhunde finden nichts

Der Landtagsabgeordnete der Grünen, Willi Halder, hätte eigentlich ein Grußwort sprechen wollen. Ebenso wie Silvan Eppinger, Vertreter des baden-württembergischen Kultusministeriums und Leiter der Stabsstelle Religionsangelegenheiten. „Als Pfarrer Sardaryan uns bat, die Lutherkirche ohne Panik zu verlassen, war mir sofort klar, dass es sich um eine Bedrohungslage handelt“, sagt Halder.

Er sei beeindruckt gewesen, so der Landtagsabgeordnete, dass sich die armenische Gemeinde nicht habe aus der Ruhe bringen lassen. „Etwa 60 Personen mussten das Gotteshaus verlassen“, sagt Polizeisprecher Olef Petersen. Danach hätten Polizeihunde die Räumlichkeiten durchsucht, aber nichts gefunden. Keinen Sprengstoff, keinen Attentäter. Über die Art der Drohung macht Petersen aber keine Angaben.

Die Entscheidung für den Großeinsatz habe das Polizeipräsidium selbst getroffen, „beraten unter anderem von Experten des Landeskriminalamts“, sagt Carsten Dehner, Sprecher des Innenministeriums. Es hätten „entsprechende Gefährdungserkenntnisse“ vorgelegen, so Dehner.

Der Blick richtet sich auf die Türkei

Doch wer steckte nun hinter einer Anschlagsdrohung? Die Armenier blicken da in Richtung Türkei und dortige extremistische Kreise. Am Jahrestag des 24. April hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan in dieser Sache kein Blatt vor den Mund genommen und noch einmal scharf den Vorwurf des organisierten Genozids zurückgewiesen. Gewalt habe es damals auf beiden Seiten gegeben, so Erdogan.

Pfarrer Sardaryan fragt sich derweil, warum sich bis heute die Welt schwertue, den Völkermord an den Armeniern zu thematisieren. „Es geht uns alle etwas an, um künftig weitere religiös motivierte Angriffe und Volksverhetzung zu verhindern“, sagt Pfarrer Sardaryan. Er hoffe hier auf eine Solidarität, auch von der Landesregierung. Damit die armenische Gemeinde Tradition, Kultur und Glaube angstfrei ausüben könne, bedürfe es der Unterstützung.

Solidarität der evangelischen Kirche

Die hat Pfarrer Sardaryan auf alle Fälle von der evangelischen Landeskirche. „Das war auch eine Störung unseres Kirchenlebens“, sagt der Pfarrer der evangelischen Lutherkirche, Ulrich Dreesman. Seit 2012 hätte der armenische Gedenktag am 24. April in der Lutherkirche stattgefunden, ohne dass es eine Bedrohung von außen gegeben habe. Der Störungsversuch habe offensichtlich Ängste schüren sollen, doch man lasse sich davon nicht abschrecken. „Das armenische Anliegen ist auch unser Anliegen, die Armenische Gemeinde gehört zu unserer Kirchengemeinde“, sagt Pfarrer Dreesman.

Die Armenische Gemeinde will die Gedenkveranstaltung von Mittwoch nachholen. Die Verhandlungen laufen, ein Termin steht allerdings noch nicht fest. Beim Innenministerium heißt es dazu: „Aus polizeilicher Sicht bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine eventuelle Wiederholung.“ Das Stuttgarter Polizeipräsidium werde dies sorgfältig bewerten. Im Kultusministerium wartet Silvan Eppinger zunächst auf den Einladungstermin, ehe er sich über eine Zusage Gedanken machen könne. Landtagsabgeordneter Willi Halder, der Bedrohungen, egal für welche Religionsgemeinschaft, „auf das Schärfste verurteilt“, hält dieses Vorhaben schon jetzt für eine gute Idee. „Es wäre mir eine Ehre“, so der Grünen-Abgeordnete, „daran teilzunehmen.“