#FreeMesaleTolu - diese Forderung war allgegenwärtig. Vor einem Jahr ließ die Türkei die wegen Terrorpropaganda angeklagte Ulmerin ziehen. Hinter ihr liegen hektische Monate. Wie geht es nun weiter?

Ulm - Ein kleiner Junge erlebt, wie seine Mutter von Männern mit Maschinengewehren überwältigt wird. „Sie drückten mich zu Boden und einer setzte mir sein Knie in den Rücken“, berichtet Mesale Tolu später in einem Buch über ihre Zeit als Gefangene. Fast acht Monate wird die kurdischstämmige Deutsche nach ihrer Festnahme am 30. April 2017 im Istanbuler Frauengefängnis festgehalten, fünf davon zusammen mit ihrem Sohn Serkan. „Inzwischen hat er das vergessen - oder zumindest verdrängt“, sagt die 34-Jährige gebürtige Ulmerin heute. „Serkan ist ein aufgeweckter Vierjähriger, geht gern in den Kindergarten und spricht längst mit der ganzen Familie nur noch Deutsch.“

 

Empörung über das Handeln der Türkei

Ein Jahr ist es her, dass Mesale Tolu die Türkei - auch dank einer Intervention der Bundesregierung - verlassen durfte. Sympathisanten hatten das bei etlichen Freitagsdemos gefordert. Unter ihnen Lehrer und einstige Mitschüler am Ulmer Anna-Essinger-Gymnasium. Es kamen kurdische Aktivisten ebenso wie Menschen, die wenig mit Politik am Hut haben, aber einfach empört darüber waren, wie die Regierung in der Türkei mit einer deutschen Staatsbürgerin umsprang. Auch Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch (CDU) setzte sich für sie ein.

„Ich empfinde heute noch Dankbarkeit“, sagt Mesale Tolu. „Die Protestaktionen in meiner Heimatstadt haben geholfen, einen öffentlichen Druck aufzubauen - und den habe ich damals sehr gebraucht.“ Am 26. August 2018 gab die Reporterin und Übersetzerin nach der Landung auf dem Stuttgarter Flughafen ihre erste eigene Pressekonferenz. Da war ihr die Verbitterung darüber, dass man sie und ihren Mann Suat Corlu (39) wegen angeblicher Unterstützung von Terroristen angeklagt und eingesperrt hatte, noch deutlich anzumerken.

Nach hektischen Monaten kehrt Ruhe ein

Inzwischen konnte auch Suat Corlu, der sich in der linksgerichteten, kurdisch geprägten Partei HDP engagiert, nach Deutschland ausreisen. Zwar laufen in der Türkei die Verfahren - mit am Ende möglicherweise langjährigen Haftstrafen - gegen beide weiter. „Aber hier fühlen wir uns sicher“, sagt Mesale Tolu. Mit Mann und Kind wohnt sie in Neu-Ulm - auf der bayerischen Seite der schwäbischen Doppelstadt an der Donau - in einem Haus, in dem auch ihre Eltern, ihre Großmutter und die Familie ihres Bruders Wohnungen haben.

Nach den ersten hektischen Monaten, als die prominente Ex-Gefangene sich vor Anfragen für Talkshows, Vorträgen und Interviews kaum retten konnte und zudem an ihrem Buch „Mein Sohn bleibt bei mir!“ schrieb, sei „nun endlich etwas Ruhe eingekehrt“. Im Juni nahm Mesale Tolu das Angebot eines crossmedialen Volontariats bei der „Schwäbischen Zeitung“ an.

Tolu will mit ihrer Familie in Schwaben bleiben

„Ich lerne das journalistische Handwerk in Print, Online, Fernsehen und Radio gründlich kennen“, sagt die Frau, die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main ein Lehramtsstudium in Ethik und Spanisch absolviert hatte. „Wir stellen eine Volontärin ein, die bereits Erfahrung mitbringt, aus unserer Region stammt und durch ihren familiären Hintergrund interessante Perspektiven in den redaktionellen Alltag einbringt“, erklärte Chefredakteur Hendrik Groth seinerzeit. „Das ist uns wichtig, nicht ihre Geschichte. Frau Tolu wird in unseren Redaktionen eine ganz normale Volontärin sein.“

In der Lokalredaktion Biberach hat sie inzwischen unter anderem über das dortige Pestalozzi-Gymnasium geschrieben, über eine Aktion des örtlichen Demokratiezentrums zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes und über eine Schule mit Unterricht für ganze Familien. Angebote aus größeren Medienzentren, darunter Berlin und Köln, wären für sie nicht wirklich interessant gewesen, sagt die Ulmerin. „Schwaben ist meine Heimat. Hier möchte ich auch künftig leben und arbeiten. Hier habe ich meine Familie - kurdische Herkunft, aber verwurzelt in Schwaben.“

„Von Pressefreiheit kann keine Rede sein“

Die Entwicklung in der Türkei verfolgt die Familie weiter mit Interesse - und Sorge. Nach Einschätzung der Organisation Reporter ohne Grenzen ist das Land unter Präsident Recep Tayyip Erdogan zu einem der größten Gefängnisse für Journalisten weltweit geworden. Seit dem niedergeschlagenen Putschversuch 2016 halte eine „Hexenjagd“ auf kritische Berichterstatter an.

„Von Pressefreiheit kann keine Rede sein, und die Verletzungen der Menschenrechte gehen weiter“, sagt Mesale Tolu. Auch deshalb will sie neben ihrem Volontariat weiter Einladungen zu Vorträgen und Diskussionsrunden annehmen. Zudem stehen allein bis Jahresende noch mehr als 20 Buchlesungen auf ihrem Programm. „Bei solchen Gelegenheiten zeigt sich immer wieder, dass viele Menschen in Deutschland weiter am Geschehen in der Türkei interessiert sind.“