Ärztevertreter und Virologen sind strikt gegen einen Lockdown, wie ihn die Regierung plant. Die Strategie bei der Bekämpfung der Coronavirus-Ausbreitung müsse geändert werden. Die Regierung wehrt sich gegen die Kritik.

Berlin - Seitdem die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), mehr als 30 ärztliche Berufsverbände sowie die Bundespsychotherapeutenkammer einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung gefordert haben, ist eine lebhafte Debatte über das KBV-Konzept entbrannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte am Donnerstag klar, dass sie das Konzept ablehnt.

 

KBV-Chef Andreas Gassen meint, dass es keinen Sinn habe, wenn die Gesundheitsämter weiter versuchten, die individuellen Ansteckungswege nachzuvollziehen. Dafür sei die Ausbreitung des Virus schon zu weit fortgeschritten. Er rät wie die Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck dazu, sich auf die besonders gefährdeten Gruppen zu konzentrieren – und zwar nicht nur auf Bewohner von Pflegeheimen, sondern auch auf Ältere oder Kranke, die zu Hause leben. Sie sollen FFP2-Masken und Schnelltests für ihre Besucher bekommen. Dieser Ansatz sei sinnvoller als ein Lockdown, der die pandemische Lage gar nicht verbessere.

Lauterbach twittert eifrig

Heftiger Widerspruch kommt vom SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach. Das KBV-Konzept sei hilflos, übersehe die Dynamik der zweiten Welle und laufe somit Gefahr, dass man wertvolle Zeit verliere und ein kompletter Lockdown angeordnet werden müsse, also einer, bei dem auch die Schulen und Läden schließen müssen. Für Lauterbach geht allein der „Wellenbrecher“, wie ihn Bund und Länder mit den zusätzlichen Maßnahmen ab dem 4. November vereinbart haben.

Dass Lauterbach am Donnerstag fleißig über das KBV-Konzept twitterte und Merkel in ihrer Regierungserklärung auf den KBV-Vorstoß einging, hat seinen Grund. Die KBV ist nicht irgendein Verein, sondern ein mächtiger Akteur im Gesundheitswesen. Die KBV und die regionalen Ärztevereinigungen gestalten den ambulanten Sektor und vertreten 175 000 Mediziner und Psychotherapeuten, die jeden Tag etwa 3,9 Millionen Kranke in ihren Praxen versorgen. Merkel vermied es in ihrer Regierungserklärung, den KBV-Vorschlag namentlich zu nennen. Sie betonte aber, dass eine „vollständige Abschirmung“ von Risikogruppen keineswegs das „mildere Mittel“ als der „Wellenbrecher“ und November-Lockdown sei. Denn zu den Risikogruppen gehörten auch Vorerkrankte. Zudem gebe es auch junge Gesunde, die an Covid-19 erkrankten und einen schweren Krankheitsverlauf erlebten.

Die Debatte wird weltweit geführt

Damit ist der KBV-Vorschlag jedoch nicht für alle Zeiten vom Tisch. Er fügt sich in die Debatte ein, die derzeit Ärzte und Virologen auf der ganzen Welt führen. Die eine Gruppe unterstützt die „Great Barrington“-Deklaration, die das Virus zirkulieren lassen und eine Überlastung der Kliniken dadurch verhindern will, dass Risikogruppen besonders geschützt werden. Die Gegenposition findet sich im „John Snow Memorandum“ und ruft alle Staaten auf, die Verbreitung des Virus mit allen (Lockdown-)Mitteln zu unterbinden.

Der Haupteinwand gegen den Barrington-Ansatz, der auch die Position der KBV beeinflusst, lautet: Zwar entsteht auf diesem Weg rasch eine Immunität vieler Bürger. Nur weiß niemand, wie lange die überhaupt anhält. Und selbst wenn Ältere oder Kranke speziell vor Ansteckung geschützt werden, bleiben Jüngere und Gesunde, die nach einer Infektion und Erkrankung Spätschäden entwickeln („long covid“). Auch wenn nur sehr wenige Infizierte dieses Schicksal trifft, sind das bei Millionen Infizierten viele Tausend Menschen.

Allerdings hat auch die Strategie, die Bund und Länder ganz im Sinne des John Snow Memorandums verfolgen, reichlich Risiken. Was passiert, wenn ihr Ziel – runter mit den Neuinfektionen, Nachvollziehbarkeit der Ansteckungswege durch die Gesundheitsämter, somit keine Überlastung der Intensivstationen – nicht klappt? Was also passiert, wenn die aktuelle Neuinfektionszahlen nicht deutlich sinken oder – falls doch – nach dem November-Lockdown wieder steigen? Darauf gibt Lauterbach Antwort: „Die langfristige Perspektive sind Impfungen. In Zwischenzeit können weitere Wellenbrecher nötig sein.“