Nach Messerattacke in Rottweil Sollen Aggressionen gegen Staatsbedienstete zentral erfasst werden?

Entsetzen nach der Messerattacke Mitte Januar im Jobcenter Rottweil Foto: dpa/Peter Arnegger

Der Messerangriff in einem Jobcenter in Rottweil war ein besonders verstörender Fall – und einer von immer mehr Aggressionen gegen Staatsdiener bundesweit, wie auch eine neue Umfrage des Gewerkschaftsbundes zeigt. DGB und Beamtenbund fordern ein Melderegister.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart/Berlin - Die Tat hat verstört: Der Messerangriff auf eine Jobcenter-Mitarbeiterin Mitte Januar in Rottweil war ein besonders verstörender Fall. Vor allem aber die weniger spektakulären Attacken auf Beschäftigte des öffentlichen Dienstes häufen sich.

 

Nach einer am Mittwoch präsentierten Umfrage des Gewerkschaftsbundes wurden in den vergangenen zwei Jahren mehr als zwei Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Sektor (67 Prozent) während der Arbeit beleidigt, bedroht oder angegriffen. 57 Prozent der Befragten sagten, die Gewalt habe zugenommen. 86 Prozent glauben, an ihnen werde der Frust am Staat ausgelebt. 92 Prozent vermissen den gesellschaftlichen Respekt gegenüber Beschäftigten im Dienst der Gesellschaft.

Jeder siebte Betroffene braucht eine Behandlung

Zu den häufigsten Folgen gehören Schlafstörungen und Stress – fast jeder Dritte wird krankgeschrieben, und etwa jeder Siebte braucht eine psychotherapeutische oder stationäre Behandlung. Der DGB hatte 2000 Kräfte aus allen Bereichen des öffentlichen Dienstes und des privatisierten Sektors befragen lassen. Mit Veröffentlichung der Umfrage wurde zugleich die Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“ gestartet.

Gewerkschaften fordert energisches Handeln

Die Gewerkschaften vermissen nachhaltige Gegenmaßnahmen des Staates. So rügt DGB-Landesvize Gabriele Frenzer-Wolf: „Es ist ein großes Problem, dass viele Übergriffe einfach hingenommen werden oder unbekannt bleiben“, sagte sie unserer Zeitung. „Wir haben schon mehrfach gegenüber der Landesregierung darauf gedrungen, dass Aggressionen und Gewalt an Beschäftigten des öffentlichen Dienstes systematisch erfasst werden.“ Nur auf der Grundlage eines umfassenden Lagebildes könne eine Strategie erarbeitet werden, wie die Beschäftigten in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes besser geschützt werden können. „Bisher sind wir damit beim Ministerpräsidenten und dem Innenminister allerdings nicht auf offene Ohren gestoßen“.

Gemeinsamer Brief an Kretschmann und Strobl

In einer ihrer seltenen Gemeinschaftsaktionen haben DGB und Beamtenbund im Südwesten den beiden Genannten unlängst einen Brief geschrieben und zielgerichtete Maßnahmen gefordert. Landesbund-Chef Kai Rosenberger will beim nächsten vertraulichen Treffen mit den für ihn wichtigsten Ministerien – dem sogenannten Kamingespräch – daran anknüpfen.

Für die SPD-Fraktion legt Rainer Stickelberger nach: „Die zunehmenden Angriffe gegen Bedienstete im öffentlichen Dienst sind nicht hinnehmbar – wir befürworten in diesem Zusammenhang den Vorschlag des DGB, Übergriffe gegen Bedienstete künftig systematisch zu erfassen.“ Dabei müsse es einheitliche Vorgaben geben, um valide und auch vergleichbare Zahlen zu erhalten. „Nur so kann ein Lagebild entstehen, aus dem sich weitere notwendige Maßnahmen ableiten lassen“, so der frühere Justizminister und Innenexperte. Das baden-württembergische Innenministerium ließ seine Haltung auf Anfrage allerdings offen.

Mehr Angriffe auf Polizeibeamte und Bahnbeschäftigte

Habhafte Zahlen aus dem Land sind eher rar: Nach der Polizeikriminalstatistik wurden 2017 noch 9258 Angriffe auf Polizeibeamte gezählt und 2018 schon 10 699 – ein Plus von 15 Prozent. Die Zahl der Körperverletzungen an Beschäftigten der Deutschen Bahn stieg im gleichen Zeitraum im Südwesten stieg laut Eisenbahngewerkschaft von 298 auf 311 Delikte.

Kann der Bund als Vorbild dienen? Auf der Beamtenbund-Tagung Anfang Januar in Köln befürwortete Innenminister Horst Seehofer noch die Idee eines bundesweiten Meldesystems. „Das werde ich gleich heute Nachmittag in meinem Haus einbringen“, versprach der CSU-Politiker.

Innenministerium hält Meldestelle nur noch für „denkbar“

Einer seiner Sprecher ergänzt nun auf Anfrage unserer Zeitung, das Innenministerium habe in der Vergangenheit eine Reihe von Projekten gegen Gewalt an Beschäftigten des öffentlichen Dienstes initiiert oder sich daran beteiligt. Diese Aktivitäten sollen gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Gewerkschaften fortgeführt werden. In diesem Rahmen sei beabsichtigt, über die aktuellen Maßnahmen und Kampagnen hinaus das Phänomen der Gewalt gegen die Beschäftigten grundsätzlich zu untersuchen und darauf aufbauend nachhaltige Strategien zu seiner Bekämpfung festzulegen. Dabei „ist auch die Entwicklung einer stabilen Konstruktion für die vom Beamtenbund vorgeschlagene Meldestelle denkbar“, so der Seehofer-Sprecher.

Beamtenbund fordert „Rückendeckung von oben“

Beamtenbund-Chef Ulrich Silberbach wird daher ungeduldig: „Wir brauchen dringend ein Lagebild, um die Dimension des Problems deutlich zu machen, Handlungsdruck gegenüber Politik und Gesellschaft zu erzeugen und passgenaue Präventions- und Schutzmaßnahmen zu entwickeln“, sagte er unserer Zeitung. Ein zentrales Melderegister für Gewalttaten gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und der privatisierten Bereiche sei unumgänglich. „Zuständig sind aus unserer Sicht eindeutig der Bund und dort das Innenressort – auch als Signal mit Wirkung ins ganze Land: Wer unseren Staat angreift, greift uns alle an.“ Die Kollegen erwarteten jetzt „ein deutliches Zeichen der Rückendeckung von ganz oben, warme Worte haben sie genug gehört“, betont Silberbach.

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