Nach der Nervengasattacke auf den Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter Julia im englischen Salisbury verweist die britische Regierung 23 russische Diplomaten des Landes. Innerhalb von einer Woche sollen sie ausgereist sein.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Seit Jahrzehnten hat es keine Ausweisungsaktion von solchem Umfang mehr im Vereinigten Königreich gegeben, wie sie die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch angekündigt hat. Moskau habe sich auf britischem Territorium „ungesetzlicher Gewalt“ bedient, was London auf keinen Fall hinnehmen könne, erklärte sie im britischen Unterhaus. Es gebe „keine andere Schlussfolgerung als die, dass der russische Staat verantwortlich war für den Mordversuch gegen Mister Skripal und seine Tochter“. Eine alternative Erklärung für die Ereignisse in Salisbury habe Moskau nicht angeboten.

 

In ungewohnter Direktheit nannte die Regierungschefin Russlands Präsidenten Wladimir Putin als Verantwortlichen ausdrücklich beim Namen. „Viele von uns“, sagte sie, „haben viel Hoffnung gesetzt ins Russland der Nach-Sowjet-Ära. Wir wollten zu einem besseren Verhältnis kommen, und es ist tragisch, dass Präsident Putin sich dafür entschieden hat, auf diese Art zu handeln.“ May warf der russischen Führung angesichts des Nervengasanschlags „Sarkasmus“ und „Verachtung“ von Menschenrechten vor.

Maßnahmen zur Demontage des russischen Spionagenetzes

Der 66-jährige frühere russische Doppelagent Skripal und seine 33-jährige Tochter Julia waren am 4. März in Salisbury bewusstlos auf einer Parkbank aufgefunden worden. Sie wurden mit lebensgefährlichen Vergiftungserscheinungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Skripal hatte als Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU für die Briten spioniert. Er wurde in Russland verurteilt und 2010 bei einem Agentenaustausch nach Großbritannien entlassen.May erklärte, Londons Nationaler Sicherheitsrat habe unter ihrer Leitung beschlossen, „sofortige Maßnahmen zur Demontage des russischen Spionagenetzes im Vereinigten Königreich“ zu ergreifen. Unter anderem will die britische Regierung Personen, die sie „feindseliger Aktionen gegen den Staat“ verdächtigt, künftig schon an den Grenzen, beim Betreten des Landes, abfangen. Solche Verhaftungen waren bislang nur gegenüber mutmaßlichen Terroristen möglich. Neue Gesetze sollen zu diesem Zweck erlassen werden.

Vorerst keine Royals bei der WM in Russland

Die Premierministerin kündigte außerdem an, Privatflüge und Warentransporte aus Russland von nun an schärfer kontrollieren zu lassen. London werde zudem russisches Kapital und Eigentum in Großbritannien „einfrieren“, wenn der Verdacht bestehe, dass es eingesetzt werde, um die Sicherheit von Menschen im Königreich zu gefährden: „Für solche Leute und ihr Geld gibt es keinen Platz in unserem Land.“ Alle Kontakte mit Russland „auf hoher Ebene“ sollen eingestellt werden, erklärte May weiter. Geplante Begegnungen im politischen und kommerziellen Bereich werden vorerst nicht mehr stattfinden. Das Fußballteam Englands will man zwar nicht von der Reise zur WM dieses Sommers in Russland abhalten. Weder Minister noch Repräsentanten der Krone würden aber mit dabei sein.

Eine bereits ausgesprochene Einladung des russischen Außenministers Sergej Lawrow nach Großbritannien sei zurückgezogen worden, sagte May: „Wir werden jedenfalls nicht dulden, dass das Leben britischer und anderer Bürger auf britischem Boden durch die russische Regierung bedroht wird.“ Zwar liege es nicht im Interesse Großbritanniens, die Beziehungen zu Moskau vollständig abzubrechen: „Aber in der Folge dieser abscheulichen Aktion gegen unser Land kann die Beziehung zwischen uns nicht die gleiche bleiben.“ Einige Tory-Abgeordnete, die schärfere Maßnahmen gefordert hatten, machten deutlich, dass sie gern auch den russischen Botschafter in London, Alexander Yakovenko, des Landes verwiesen hätten. Yakovenko verurteilte die Sanktionen als „völlig inakzeptabel, ungerechtfertigt und kurzsichtig“. Zur Frage, ob der staatliche russische Fernsehsender RT (früher Russia Today) seine Sendelizenz in London behalten werde, wollte sich May vorerst nicht äußern. Eine solche Entscheidung obliege der britischen Medien-Aufsichtsbehörde.

Unterschiedliche Beurteilung im Parlament

Einen Sturm der Entrüstung auf beiden Seiten des Parlaments löste nach Mays Rede die Weigerung des Labour-Vorsitzenden und Oppositionsführers Jeremy Corbyn aus, Moskau in derselben Schärfe zu verurteilen. Corbyn hielt an der Frage fest, ob „auch jemand anderer“ als der russische Staat den Anschlag verübt haben könnte. Er wollte von May auch wissen, warum sie nicht dem russischen Verlangen nachgekommen sei, Moskau eine Spur des in Salisbury aufgetauchten Nervengases zur eigenen Untersuchung zu übermitteln.

Ein Labour-Hinterbänkler nach dem anderen setzte sich in dieser Frage vom Labour-Parteichef ab. Sie alle stellten sich, wie in solchen Fällen in London üblich, um der „nationalen Einheit“ willen hinter die Regierung. Yvette Cooper, die Labour-Vorsitzende des innenpolitischen Ausschusses im Unterhaus, bekam lautstarken Beifall in der ganzen Kammer, als sie erklärte, eine „unzweideutige Verurteilung“ Moskaus sei in der jetzigen Situation vonnöten. Dagegen erklärte ein Sprecher Corbyns, noch habe man keinen wirklichen Beweis für die Schuld Putins gesehen. Die britischen Geheimdienste hätten sich auch schon früher geirrt – in Sachen Massenvernichtungswaffen.