Die Unternehmen und Wirtschaftsverbände im Südwesten reagieren zunehmend empfindlich auf Boykottlisten und Aufrufe zur Denunziation von Firmen, die angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Stuttgart - Die Auseinandersetzung zwischen Anhängern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinen Gegnern findet immer stärker auch innerhalb der deutschen Wirtschaft statt.

 

Einzelne Unternehmen, die auf Boykottlisten stehen, die im Internet kursieren, registrieren bereits einen Rückgang ihrer Kundenzahlen. Das betrifft auch Betriebe in Baden-Württemberg. Unserer Zeitung liegt eine Liste vor, auf der über 20 Südwestfirmen stehen, denen Erdogan-Anhänger die Nähe zur sogenannten Gülen-Bewegung unterstellen, die in der Türkei für den Putschversuch am 15. Juli verantwortlich gemacht wird.

Die Wirtschaftsvertreter reagieren darauf zunehmend empfindlich: „Boykottlisten passen nicht in die soziale Marktwirtschaft“, sagt Bernd Engelhardt, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart, unserer Zeitung.

„In Deutschland darf jeder frei entscheiden, bei wem er kauft und mit wem er Geschäfte macht“, stellt Engelhardt klar. „Den Wettbewerb sollten Qualität, Preis und Fairness bestimmen, nicht Nationalität, Religion oder Ideologien.“

Die Firmen, die auf den entsprechenden Listen stehen, sprechen von einer regelrechten Hetzjagd auf Unternehmen, die offenbar nicht ins Bild der Erdogan-Anhänger passen.

„Das geht soweit, dass einzelne Menschen Morddrohungen erhalten“, sagt Önder Kurt. Der Ulmer Unternehmer leitet in Berlin den Bundesverband Unternehmensvereinigungen (BUV), in dem auch viele Firmen Mitglieder sind, die tatsächlich der Gülen-Bewegung nahe stehen.

Auch weltanschaulich neutrale Firmen landen auf den Listen

Auf den Boykottlisten landen aber auch Betriebe, die weltanschaulich völlig neutral sind. „Das sorgt für eine große Verunsicherung der türkischen Unternehmer in Deutschland“, sagt Kurt. „Die Firmen spüren, dass es negative Auswirkungen auf ihre Geschäftstätigkeit hat, wenn ihre Namen auf den Listen auftauchen.“

Aber auch das türkische Generalkonsulat in Stuttgart kritisiert die Verbreitung der Listen: „Das sind keine staatlichen Empfehlungen“, sagt ein Wirtschaftsexperte des Generalkonsulats unserer Zeitung. Die türkischen Unternehmen in Deutschland seien nicht im Visier Erdogans. Dieser hatte vor wenigen Tagen angekündigt, die sogenannten Säuberungen auch auf die Wirtschaft ausdehnen zu wollen.

Gleichwohl appellierte Erdogan am Mittwoch erneut an die „patriotische Pflicht“ der Türken, Anhänger Gülens anzuzeigen. „Sie sind überall eingedrungen, wie ein Virus.“

Nach Schätzungen der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer (TD-IHK) sind rund 1300 türkische Konzerne mit Niederlassungen in Deutschland vertreten. Zu den großen Unternehmen gehört etwa das Kreditinstitut Ziraat Bank, der Haushaltsgerätehersteller Arçelik, die Textilunternehmen Sarar und Mavi sowie der Mobilfunkanbieter Türkcell.

In Baden-Württemberg sind die türkischen Unternehmer vor allem im Kleingewerbebereich stark vertreten. Insgesamt zählt die IHK für die Region Stuttgart 3790 türkische Kleingewerbetreibende. Dabei handelt es sich um Betriebe, die oft (65,4 Prozent) nicht mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigen.

Die ausländischen Kleinbetriebe sind nach einer IHK-Studie in der Region Stuttgart vor allem im Handel, in der Gastronomie und im Baugewerbe aktiv.

Boykottlisten sind nicht das einzige Problem

Die Boykottlisten sind nicht das einzige Phänomen, das den türkischen Unternehmern im Land Sorgen bereitet.

Über das soziale Netzwerk Facebook oder den Nachrichtendienst Whatsapp werden von Erdogan-Anhängern auch Mitteilungen verschickt, in denen türkische Bürger in Deutschland aufgefordert werden, verdächtige Einrichtungen bei staatlichen Stellen zu melden.

„Aktuelle politische Ankündigungen in der Türkei scheinen sich mittlerweile in den sozialen Netzwerken niederzuschlagen“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), unserer Zeitung. „Es ist nicht auszuschließen, dass die betroffenen Firmen dies auch in ihrem Umsatz spüren werden .“

Auswirkungen der Türkeikrise befürchtet Treier aber auch bei den deutschen Ausfuhren. „Der DIHK hat in diesem Jahr ursprünglich mit einem signifikanten Wachstum deutscher Exporte in die Türkei von fünf bis zehn Prozent gerechnet“, sagte Treier. Jetzt mache sich Ernüchterung breit, und der DIHK gehe bestenfalls noch von einer Stagnation der Ausfuhren aus.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden zwischen den beiden Staaten 2015 Waren im Wert von 36,9 Milliarden Euro gehandelt. Die Exporte aus Deutschland beliefen sich dabei auf 22,4 Milliarden Euro. Die Exporte aus Baden-Württemberg beliefen sich 2015 auf ein Volumen von über drei Milliarden Euro.