Der Nürtinger Oberbürgermeister Johannes Fridrich fordert, die Probleme im Zusammenhang mit Zuwanderung, Integration und Abschiebungen nicht kleinzureden. Haupt- und Ehrenamtliche seien an der Kapazitätsgrenze.
Die Tötung einer 66-jährigen Nürtingerin hat die Menschen in der Kreisstadt aufgewühlt. Die Leiche der Frau war vor zwei Wochen aus dem Neckar geborgen worden. Als Tatverdächtigen hat die Polizei einen 37-jährigen Iraner festgenommen, der in einer Flüchtlingsunterkunft in Oberboihingen lebte. Der Nürtinger Oberbürgermeister Johannes Fridrich hatte sich nach der Tat mit mahnenden Worten an die Öffentlichkeit gewandt und gebeten, sich aus Respekt vor dem Opfer nicht an Spekulationen zu den Umständen der Tat zu beteiligen, sondern die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft abzuwarten.
Herr Fridrich, wie empfinden Sie die Stimmung in Nürtingen? Befürchten Sie, dass der Tatverdacht zu weiteren Ressentiments gegen Geflüchtete führt und gegebenenfalls rassistische Stimmungen verstärkt beziehungsweise entstehen lässt?
Es herrscht großes Entsetzen über die Tat in der Stadt, auch bei uns in der Stadtverwaltung. Die Tat geht uns allen sehr nahe. Tatsächlich erreichen mich Mails mit teils ausländerfeindlichen Inhalt, aber aus dem Bundesgebiet und nicht aus dem Nürtinger Umkreis. Wichtig ist es, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Einerseits gibt es hier viele Menschen, die zugewandert sind, sich bestens integriert haben und ein wichtiger Teil der Stadtgesellschaft sind. Andererseits dürfen Probleme im Zusammenhang mit Zuwanderung, Integration und Abschiebungen nicht kleingeredet werden und müssen offen kommuniziert und Lösungen gefunden werden. Wir Kommunen machen dies auch über den Städte- und Gemeindetag. Hier sind in erster Linie der Bund und das Land gefragt. Wir werden in Nürtingen aber weiter eine offene und tolerante Gesellschaft bleiben. Keine Toleranz darf es aber bei Gewaltdelikten geben.
Wird die Integrationsarbeit möglicherweise jetzt schwieriger?
Wir haben in Nürtingen einen gutes Netzwerk aus ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wie das Netzwerk „NFANT“ und einen großen Dolmetscherpool. Auch hier müssen etwaige Sorgen ernstgenommen und darüber gesprochen werden. Ich bin aber zuversichtlich, dass dies gelingt und die wichtige Arbeit in gleicher Weise fortgesetzt werden kann. Generell sind aber Ehrenamt und Hauptamt aufgrund der großen Anzahl an Geflüchteten in den letzten Jahren an der Kapazitätsgrenze, sodass es immer schwieriger wird, allen gerecht zu werden.
Sie sagen, Probleme dürften nicht kleingeredet werden, was heißt das für die kommunale Ebene? Welche Probleme brennen Ihnen im Zusammenhang mit Integration am meisten auf den Nägeln?
Wir kommunizieren über den Städte- und Gemeindetag seit Jahren in aller Deutlichkeit die Probleme, die nur auf Bundes- und Landesebene zu lösen sind. Die Aufnahmekapazitäten vieler Kommunen sind am Limit. Wir mussten in Nürtingen für den Neubau und die Anmietung von Flüchtlingsunterkünften – eine Pflichtaufgabe – viele Millionen Euro investieren. Die geplanten Flüchtlingsunterkünfte im Baugebiet Wasserfall kosten allein über sechs Millionen Euro. Hier sind die Kosten für die Sozialbetreuung noch nicht enthalten. Das Geld fehlt dann in anderen Bereichen, wie beim Bau einer dringend benötigten Sporthalle oder der Sanierung von Gebäuden, da das Land uns bei der Verschuldung eine klare Obergrenze setzt. Dies ist insoweit paradox, weil Bund und Land ja die Unterbringung anordnen und die Kommunen gezwungen sind, in Vorleistung zu gehen. Der Grundsatz der Konnexität („wer bestellt, bezahlt“) wird in vielen Bereichen nicht eingehalten.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Wenn zu viele Geflüchtete auf einmal in den Kommunen ankommen, leidet die Qualität der Integration. Es fehlen ja nicht nur Unterbringungsmöglichkeiten, sondern wir kommen auch bei der Betreuung durch Ehrenamtliche und der medizinischen Versorgung an die Belastungsgrenze und darüber hinaus. Es zieht sich dann durch in alle Bereiche, so fehlt es etwa auch an Plätzen in Sprachkursen und im Kindergartenbereich. Trotz des Einsatzes von speziell geschulten Integrationskräften sind die Herausforderungen und der Betreuungsbedarf von geflüchteten Kindern sehr groß. Dies kann zur Überforderung von pädagogischen Fachkräften und Lehrerinnen und Lehrern führen. Es sind einfach zu viele Menschen auf einmal, die in den Kommunen versorgt und integriert werden müssen. Das ist kein Vorwurf an die Menschen, aber an die Politik. Wir möchten uns um die geflüchteten Menschen gut kümmern, nicht nur irgendwie.
Wie kann Integration gelingen?
Für eine gelingende Integration sind die zwei Faktoren Arbeit und Sprache für mich entscheidend. Aber auch da gibt es bei den gesetzlichen Regelungen viel Bürokratie und falsche Anreize. Das alles führt dazu, dass in Teilen der Bevölkerung die Akzeptanz – und die Hilfsbereitschaft in Nürtingen war und ist nach wie vor groß – sinkt. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern als Politiker auch gut zuhören, man darf nicht den Eindruck haben, dass Sorgen und Ängste nicht ausgesprochen werden dürfen. So finden viele etwa die praktizierte Abschiebepraxis wenig transparent. Viele haben den Eindruck, dass diejenigen, die in Lohn und Brot stehen und greifbar sind, eher abgeschoben werden, wie beispielsweise jüngst der gut integrierte Hausmeister in Unterensingen. Für die Akzeptanz ist es aus meiner Sicht wichtig, dass hingegen die straffälligen Geflüchteten, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, konsequent abgeschoben werden. Auch hier haben wir als Stadt keine Handhabe, können aber zuhören, kommunizieren und die Forderungen an der richtigen Stelle platzieren.
Ist Nürtingen ausreichend versorgt mit Sprachkursen für Geflüchtete?
Derzeit können rund 140 der in Nürtingen ansässigen Interessenten für Integrationskurse zunächst nicht in die Kurse aufgenommen werden. Dies deckt sich mit den statistischen Werten des gesamten Landkreises Esslingen. Es gibt jedoch ein gut funktionierendes Netzwerk aller Integrationskursträger und wir verweisen auf beginnende Kurse bei anderen Trägern. Es fehlen jedoch überall Dozenten für Integrationskurse, auch wenn wir aktiv in der Akquise sind. Die Zulassung als Integrationskursleiter ist mit sehr hohen Anforderungen an deren Qualifizierung verbunden, was eine gute Unterrichtsqualität auf der einen Seite sichert. Auf der anderen Seite können die derzeit hohen Bedarfe nicht schnell abgefedert werden.
Gibt es an den Schulen genügend Vorbereitungsklassen?
Das zuständige Schulamt hat die Anzahl der Vorbereitungsklassen an den Schulen in städtischer Trägerschaft seit Beginn des Krieges in der Ukraine nochmals dem Bedarf entsprechend sukzessive aufgestockt. Waren es im Schuljahr 2021/2022 sechs Klassen mit 92 Schülerinnen und Schüler, sind es im Schuljahr 2023/ 2024 neun Klassen mit 142 Schülerinnen und Schülern.
Wie ist das Integrationsmanagement der Stadt Nürtingen personell aufgestellt? Wie zu hören war, ist der Soziale Dienst seit geraumer Zeit überlastet wegen Personalwechsel und Krankheit. Seit wann ist das so und wann soll das Angebot wieder aufgestockt werden?
Insgesamt hat der Beratungsbedarf über die letzten Jahre sowohl durch den Zuzug geflüchteter Menschen aber auch durch den steigenden Beratungsbedarf von sonstigen Nürtinger Bürgerinnen und Bürgern beispielsweise zu finanziellen Schwierigkeiten und Wohnraum zugenommen, sodass die Situation im Sozialen Dienst und dem Integrationsmanagement nach wie vor schwierig bleibt. Der städtische Soziale Dienst und das Integrationsmanagement ist aktuell mit knapp fünf Stellen ausgestattet, davon werden knapp drei über die Förderung des Integrationsmanagements durch das Land finanziert. Organisatorisch sind der Soziale Dienst und das Integrationsmanagement seit dem Beschluss des Gemeinderats vom Oktober 2020 zusammengeführt. Die aufgrund von Personalwechseln und Krankheitsfällen angespannte Personalsituation hat sich inzwischen wieder etwas entspannt.
Nürtingen setzt neuerdings auf soziale Beratung in den Unterkünften
Person
Der parteilose Jurist Johannes Fridrich (47) ist seit 2019 Oberbürgermeister von Nürtingen.
Konzept
In ihren Unterkünften für Geflüchtete setzt die Kommune neuerdings auf die Kombination von Vor-Ort-Beratung und pädagogischer Hausleitung. Dies ermöglicht eine vergleichsweise niederschwellige Beratung und der direkte, persönliche Kontakt erleichtert laut Kommune die Kommunikation. Diese Beratung greift für Geflüchtete existenzielle Themen wie die Suche nach Wohnraum, Arbeit und Ausbildung, Anmeldung und Aufenthalt auf und zeigt Wege zu anderen Hilfsangeboten auf.
Hilfe
Die Kommune setzt sich für die Hilfe traumatisierter Geflüchteter ein. Dieses Psychosoziale Netzwerk, das in der Alten Seegrasspinnerei angesiedelt ist, wird über Fördermittel des Bundes sowie der Diözese Rottenburg-Stuttgart finanziert. Aktuell sieht es laut Kommune so aus, dass die Finanzierung für das Jahr 2025 gesichert ist. Weitere Anlaufstellen sind die Psychologische Beratungsstelle des Landkreises Esslingen und die der Psychologischen Familien und Lebensberatung der Caritas Fils-Neckar-Alb.