Bohrmaschine ausleihen, Schlüssel deponieren oder einfach nur einen netten Plausch halten: Sich enger mit der eigenen Nachbarschaft zu verknüpfen ist wieder in, und ja auch bei den Schwaben.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Seit Sonntag hätte ja gern die halbe Nation Fußballspieler Jérôme Boateng als Nachbarn. Nun hat der es in seinem Münchner Nobelvorort Grünwald wohl recht nett und will dort bestimmt nicht weg. Doch wer sich im eigenen Quartier umschaut, findet sicherlich andere nette Nachbarn. Denn die misanthropische Denkweise der Wiener Autorin und Alltagsbeobachterin Stefanie Sargnagel – bekannt für ihre lustig-zynischen Facebook-Posts – nach der „Nachbarschaft nichts schönes und keine Bereicherung“ sei, sehen viele längst nicht mehr so. Das hat auch Sargnagel treffsicher erkannt: „Der Nachbarschaftskontakt wird inzwischen gerne romantisiert.“

 

Vor allem in Großstädten boomen private Nachbarschaftsprojekte und Stadtteilinitiativen. Anonymität? Will wohl keiner mehr. Im Stuttgarter Westen organisieren sich manche Nachbarschaften zum Beispiel über die Internetplattform www.nebenan.de. Sich aushelfen, Laufpartner oder Babysitter finden oder sich einfach mal zwei Eier zum Backen leihen – das ist das Ziel der Feuersee-Anwohner, die in dem Nachbarschaftsnetzwerk eine Gruppe eröffnet haben. Die Gruppe „Hasenberg“ hat dort bereits 181 Mitglieder. „Die Leute suchen den Kontakt“, sagt eine der Gründerinnen der Gruppe. Die 29-Jährige ist kürzlich von Hamburg nach Stuttgart gezogen und hat die Gruppe mitinitiiert. Ihre Erfahrung: die Leute vermissen nachbarschaftliche Verhältnisse. „Man zieht heute als junger Mensch von Großstadt zu Großstadt und hat es schwer Kontakte zu finden.“

Eigene Smartphone-App für Stuttgart

In Großstädten ist die Sehnsucht nach dörflichem Flair gewachsen. Neu ist, dass die Anbahnversuche oft im Netz stattfinden: Nebenan.de ist nicht die einzige Plattform im Internet, welche eine Vernetzung ermöglicht. Auch www.allenachbarn.de, www.wirnachbarn.de oder www.wir.de funktionieren nach dem Prinzip. Der erste Kontakt läuft unverbindlich übers Internet. Die Hürde, andere anzuschreiben, ist niedriger, als direkt bei Nachbarn zu klingeln.

Vier Studentinnen wollen im Herbst eine eigene Smartphone-App für Stuttgart auf den Markt bringen. Vor zwei Jahren haben Katharina Kulakow, Anja Weiler, Corinna Groß und Esther Fischer im Zuge eines Studienprojektes an der Hochschule der Medien das soziale Start-Up-Unternehmen „Deine Straße“ gegründet. „Wir sind alle mehrmals in Stuttgart umgezogen, aber unsere Nachbarn kannten wir fast nie“, sagt die 26 Jahre alte Katharina Kulakow. Sie wollen mit der App Nachbarn zusammenbringen und eine Art Tauschbörse kreieren. „Jeder hat Fähigkeiten, die jemand im Quartier helfen könnten“, ergänzt Corinna Groß.

„Deine Straße“ soll im Prinzip ein Mini-Facebook für den Stuttgarter Süden werden. Bisher sind die Gründerinnen noch in der Anfangsphase, langfristig wollen sie das Projekt auf ganz Stuttgart ausweiten.

Viele Menschen sehnen sich nach einem Zusammenhalt im Viertel. Dies ermittelte die TU Darmstadt vor zwei Jahren mit Hilfe einer Studie: Rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung wünscht engeren Kontakt zu den Nachbarn. Etwa 80 Prozent sind stets bereit, den Nachbarn zu helfen.

Die Kultur im Viertel verbessert sich

Doch warum erst eine App programmieren oder eine Website basteln, wenn das Ganze noch einfacher geht? So sieht das zumindest der Münchner Rene Götz. Der 39-Jährige organisiert die weit über die bayrische Landeshauptstadt hinaus beliebten Hofflohmärkte. Im vergangenen Jahr ist er mit vier Veranstaltungen in der Stuttgarter Innenstadt gestartet, in diesem Jahr sind es bereits zehn Flohmärkte in Gärten und Hinterhöfen – vom Stuttgarter Westen über das Lehen- und das Heusteigviertel bis Degerloch oder Vaihingen.

Sein Konzept: Die Nachbarn lernen sich kennen, bilden Hausgemeinschaften. Das verbessert nach Ansicht des Münchners die Kultur im Viertel und gibt ein Gefühl von Sicherheit. „Dieses neue Vertrauen stärkt auch die Menschen selbst.“

Sich heimeliger fühlen, das wollen viele. Doch die Leute seien oft nachlässig dabei, selbst etwas zu initiieren. „Man muss ihnen einen Grund geben“, sagt Götz. Denn: „Manche sind zuerst skeptisch gegenüber ihren Nachbarn, haben tatsächlich ein wenig Angst“, so seine Erfahrung. Wenn sie erst einmal gesehen hätten, dass die Mitbewohner von nebenan doch ganz nett sind, seien alle total aufgeschlossen. „Auch die Stuttgarter“, betont Götz und lacht.

Viele kommen über ein gemeinsames Hobby in Kontakt. Ein verlassener Spielplatz am Stöckach ließ bei Martina Schütze und Sonja Wieland vom Stadtteil- und Familienzentrum Stöckach den Wunsch wachsen, dort etwas Gemeinsames entstehen zu lassen. Seit fünf Jahren vereint einige Anwohner des Nachbarschaftsgarten am Stöckach nun das Gärtnern. Zur besseren Organisation haben sie einen Verein gegründet und pflegen seitdem in einem kleinen, konstanten Kreis von etwa zehn Anwohnern den entstandenen Garten. „Das Gärtnern steht aber nicht so im Vordergrund“, sagt Wieland. „Wir sitzen auch einfach viel zusammen und schwätzen.“

Dann passiert bei solchen Projekten ja auch etwas, was sonst selten geschieht: „Bei uns haben Menschen zusammengefunden, die sonst nie zusammengekommen wären“, sagt Wieland. Die meisten hätten sonst schlicht keine Berührungspunkte gehabt. Der Garten vereint sie und ist ein beliebter Treffpunkt im Viertel geworden.

Und eigentlich geht Nachbarschaft ja noch viel einfacher: Der Heusteigviertel-Verein hat kürzlich die Anwohner des Mozartplätzle spontan zum „Guerilla-Grillen“ eingeladen, wie Vorsitzender Rupert Kellermann die Aktion im Nachhinein nannte: Einfach kommen, grillen, schwätzen. So geht Nachbarschaft am Einfachsten.

Ist ja auch ein bisschen romantischer. Auch ganz ohne Boateng.