In der Hauptstadt Berlin ringen drei Männer um die Nachfolge von Klaus Wowereit. Die SPD-Basis macht es spannend. Am Wochenende soll das Rennen entschieden sein.

Berlin - Die Bühne im Kulturhaus in Karlshorst ist menschenleer. In langen Stuhlreihen wartet das Publikum, 200 Genossen sitzen geduldig im Dunkeln. Es geht hier darum, was kommt – für die Partei, aber vor allem für Berlin.

 

Am 26. August endete ein Kapitel der Stadtgeschichte. Da spazierte Klaus Wowereit im royalblauen Anzug in einen Saal im Roten Rathaus, erst grinsend, dann den Tränen nahe, und sagte, dass er zurücktreten werde. Sobald seine Partei entschieden hat, wer ihm nachfolgen soll. Seitdem läuft der Countdown. Gesucht wird der Regierende Bürgermeister.

17 200 Berliner Sozialdemokraten entscheiden in einem Mitgliedervotum über den künftigen Regierungschef für die 3,5- Millionen-Metropole. Spitzenkandidaten wurden so schon gekürt. Wer hier aber gewinnt, ist quasi direkt gewählt. Bis Samstag müssen sie ihre Stimme abgegeben haben. Wenn jemand das undemokratisch findet, dann jedenfalls nicht das Landesparlament, wo sich nicht mal der Hauch einer Mehrheit für Neuwahlen andeutete. Sehr schnell hat der Koalitionspartner CDU signalisiert, denjenigen mit zu wählen, für den die Sozialdemokraten sich entscheiden. Auch wenn die CDU in den Umfragen obenauf ist – sie hat zurzeit keine andere Machtoption als mit der SPD.

Für die Genossen birgt das Mitgliedervotum ohnehin nur Vorteile. Da ist einerseits der Charme, den die Demokratie versprüht, wenn man sie hautnah fühlt. Und andererseits: nur über die Parteibasis kann es gelingen, die in Lager zerfallene Truppe bis zur nächsten Wahl in eineinhalb Jahren zu einen.

Im Kulturhaus im Ostteil der Stadt könnte es jetzt mal losgehen mit der Entscheidungsfindung. Die Genossen werden langsam ein bisschen unruhig. Es ist stickig im Saal. Drei Rednerpulte stehen nebeneinander auf der Bühne. So viele Kandidaten haben sich beworben – und so sehen auch die Strömungen in der Partei aus. Allein diese Phase war schon eine Geschichte für sich: Kaum hatte Wowereit seinen Rücktritt verkündet, da meldeten sich Raed Saleh und Jan Stöß zu Wort, die beiden neuen starken Männer in der Partei, Fraktionschef der eine, Parteichef der andere. Erst Tage später entschied sich der Dritte: Michael Müller, 49 Jahre alt, Stadtentwicklungssenator – und so lange Parteichef und Kronprinz von Wowereit, bis Stöß und Saleh ihn vor zwei Jahren mit vereinten Kräften stürzten. Jener Burgfrieden, den die beiden Newcomer zu diesem Zweck geschlossen hatten, hielt nur kurz – zwei Jahre sah die Partei zu, wie sich die Rivalität im Kampf um die beste Startposition für die Nachfolge entwickelte.

Jedenfalls ist das Kandidatenrennen spannend. Seit drei Wochen tingeln die Kandidaten zu Mitgliederforen und Kreisverbänden, von Schwusos zur Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, von der AG Migration zu den Mitarbeitern der Bundespartei. Es ist Wahlkampf in der SPD – einer mit besonderen Schwierigkeiten. Die großen Themen der Stadt für die kommenden Jahre sind sowieso klar: Wie kann es gelingen, das schnell wachsende Berlin fair und sozial zu gestalten, ohne den Fortschritt zu bremsen? Das Wahlvolk will Unterschiede sehen, aber zu groß dürfen die in einer Partei auch nicht sein. Die Abteilung Attacke hat Pause.

Am Samstag wird ausgezählt, wenn keiner eine absolute Mehrheit erringt, folgt eine Stichwahl. Favoriten? Wer will die kennen? Von den 17 200 Mitgliedern ist nicht mal ein Viertel regelmäßig aktiv. Es gibt Umfragen, aber keiner kennt deren Verlässlichkeit. Alle unschönen Faktoren, die sonst bei politischen Entscheidungen eine Rolle spielen, sind neutralisiert: Kungelei, Loyalitäten, versprochene Posten und Abstimmungsdisziplin. Machtarithmetik mit drei Unbekannten.

In Karlshorst ist jetzt auch Jan Stöß mit gehöriger Verspätung angekommen und springt mit einem langen Schritt auf die Bühne, um seine Rede zu halten. Stöß, von Beruf Verwaltungsrichter, 1,96 Meter groß, kantige Berlin-Mitte-Brille, schlipslos im dunklen Anzug, sieht sehr nach Großstadt aus, nach Intellekt. Für den Wahlkampf hat er seinen Doktortitel rausgeholt, der steht jetzt am Rednerpult. Er spricht, anders als seine Konkurrenten nur sehr spärlich über Biografisches. Seinen Lebensgefährten allerdings stellt er in den Mitgliederforen immer offensiv vor.

Er hat sich in den vergangenen Wochen angewöhnt, seine Rede mit Handbewegungen zu unterstützen, die manchmal ein bisschen wie Gebärdensprache aussehen, auf jeden Fall wirkt das alles sehr dynamisch. „Mut zur Erneuerung“ hat der 41 Jahre alte Jurist seine Kampagne getauft – und auch sonst macht er es wie aus dem Lehrbuch des US-Wahlkampfs. Es gibt eine Unterstützerkampagne mit Videos – große Namen wie der des ehemaligen DGB-Chefs Michael Sommer sollen den kleinen Basisgenossen den Weg weisen. Irritiert reagierte die Partei in Teilen auf ein 100-Tage-Regierungsprogramm, das Stöß vorstellte, inklusive milliardenschwerer Ideen für mehr Personal und öffentlich finanzierte Wohnungen – schließlich befindet sich die SPD in einer Regierung mit der CDU, es gibt einen Koalitionsvertrag, keinen Neustart. Aber Stöß kann nur so Handlungsfähigkeit demonstrieren: anders als Müller, der das wichtigste Gestaltungsressort im Kabinett hat, und Saleh, der mit der Fraktion konkrete Ergebnisse erzielt, bleibt dem Parteichef nur die Kraft der Worte.

Die scheint nicht immer zu reichen. Artig applaudieren die Genossen, wenn der Linke Stöß verkündet, dass es längst nicht mehr um Ost und West in Berlin gehe, sondern darum, das, was auseinanderdriftet, wieder zusammenzuführen: „Die soziale Einheit Berlins vollenden – das ist die zentrale Frage.“ Aber wenn er zum Pannenflughafen BER erklärt, nun müsse man „den Menschen endlich reinen Wein einschenken: Was passiert wann, und passiert überhaupt etwas?“ – dann klingt das offenbar in den Ohren vieler Zuhörer etwas hohl.

Es scheint, dass der als sehr ehrgeizig geltende junge Parteichef den Malus des Dolchträgers hat. Er war es, der mehr oder weniger direkt Druck auf Wowereit ausgeübt hatte, sich zur Zukunft zu äußern. Strategisch gesehen hatte er recht – die Beliebtheitswerte von Wowereit waren seit Langem im Keller und rissen die Partei nach unten. Seit der Alte den Weg frei gemacht hat, steigen sie.

Aber wird ihm die Partei das danken? In den Mitgliederforen wirkt Stöß im Vergleich zu den Kontrahenten eher isoliert, kühl, etwas besserwisserisch, wie aus der Distanz kommend. Als Einziger schaltet er auf Angriff – nicht gegen Saleh, der wird ignoriert, sondern gegen Müller, der für ihn das „Alte“ zu verkörpern scheint, das er erneuern möchte. „Armut ist nicht sexy“, ruft er. Mit Politik wie im „Schlafwagen“ könne man die Stadt nicht nach vorne bringen.

„Ich lasse mir 13 Jahre erfolgreiche Regierungspolitik nicht kaputtreden“, sagt dazu Müller und hat natürlich den Reflex-Applaus auf seiner Seite. Er versucht, aus seiner größten Niederlage von vor zwei Jahren eine Qualität zu machen – der Mann, der als dünnhäutig gilt, gibt nun den erfahrenen Staatsmann, der alles schon gemacht hat: Parteichef, Fraktionschef, Senator. „Regieren muss man auch können“, sagt er. In jeder Veranstaltung betont er, dass er sich erst einmal Zeit genommen habe, um nachzudenken, ob er antreten wolle – Subtext: die jungen Heißsporne wollen Karriere machen, mir geht es um die Stadt.

Der gelernte Buchdrucker und Familienvater war über lange Zeit Wowereits Nummer zwei. Einer, der umsetzt, nicht einer, der vordenkt. Was ihn als Nummer eins antreibt? Er erklärt es nicht. In der Erfahrung mag das stärkste Argument für Müller liegen, und es kann sein, dass dies im klassischen Berliner SPD-Milieu auch am meisten Gewicht hat. Es könnte aber auch eine ordentliche Fallhöhe entwickeln. Denn Müller hat die Regierungspolitik der Privatisierungen mitverantwortet. Und lange hielt man im Senat steigende Mieten allein als Beweis für den Aufstieg der Stadt.

Saleh war damals übrigens der Rebell, der im Parlament aufbegehrte und gegen den Fraktionschef Müller den Verkauf von Wohnungen der ehemaligen Bankgesellschaft verhinderte. Natürlich weist er heute nur dezent darauf hin. Für den kurzen Ruhm solcher Siege ist der 37-Jährige zu clever. Saleh hat eine andere Geschichte zu erzählen: die ursozialdemokratische Story des Aufstiegs.

Der gebürtige Palästinenser, der im Alter von fünf Jahren nach Spandau kam und mit acht Geschwistern hier aufwuchs, will der erste Ministerpräsident mit ausländischen Wurzeln werden. Das sagt er so nicht – in den Jahren seines politischen Aufstiegs hat er Fragen nach seiner Biografie derart beendet: „Ich bin Sozialdemokrat, der zufällig ausländische Wurzeln hat, Punkt.“ Er sprach nicht über Diskriminierung oder Bedrohung, nicht über Lehrer, die ihn auf die Hauptschule schicken wollten, und Genossen, die ihm unterstellten, sein Geld sonst wie und nicht hinter der Theke eines Burgerbraters zu verdienen. Wenn überhaupt, dann erzählte er im kleineren Kreis über seinen Vater, der dem kleinen Raed damals sagte: „Wir packen unsere Koffer aus, wir bleiben hier. Dies hier ist deine Heimat. Arbeite hart.“

Aber jetzt, im Rennen um das Amt des Regierenden Bürgermeisters, sieht er den Zeitpunkt gekommen, mit dieser Biografie zu punkten. Voller Pathos erzählt Saleh beim ersten Mitgliederforum davon, wie er das Grab seines Vaters besuchte. „Heimat“, so übermittelt er einen väterlichen Leitsatz, sei da „wo einem nicht egal ist, was geschieht“. Salehs Aufstiegserzählung eines muslimischen Zuwanderers aus der Hochhaussiedlung, der nun Deutschlands Hauptstadt regieren könnte – eine Stadt, in der jedes zweite Kind aus einer Familie mit ausländischen Wurzeln stammt –, ist faszinierend. Die internationale Presse steht Schlange, er wird porträtiert und befragt – zu Integrationspolitik befragt, Antisemitismus, der Krise in Gaza.

Seinen Genossen erzählt Saleh anderes. Zum Beispiel, wie er versucht, als Fraktionschef Hilfestellung zum Aufstieg zu organisieren: vom Brennpunktschulprogramm und der von ihm angetriebenen Debatte über Kitapflicht und davon, dass man Kindern und Jugendlichen klarmachen muss, sich an die Gesetze zu halten. Das kommt an.

Am Ende des ersten Mitgliederforums steht Saleh auf der Bühne und erzählt, dass immer wieder die Frage gestellt werde, ob Berlin wohl so weit sei, einen wie ihn ins Rote Rathaus zu schicken. Der kleine Mann mit dem blütenweißen Hemd und den gekrempelten Ärmeln gibt die Frage zurück an die, die das bis Freitagabend noch bestimmen können: „Bist du so weit?“