Die promovierte Historikerin Hertha Schwarz hat im Auftrag des Landkreises Böblingen die Geschichte des staatlichen Durchgangslagers von 1946 bis 1961 rekonstruiert. Eine Erfolgsgeschichte, die nie so geplant war.
Die Spuren der ehemaligen Gebäude im rund 18,5 Hektar großen Waldstück im Jettinger Gewann Kehrhau sind nicht leicht zu entdecken – dass Alteingesessene dieses Areal noch immer Lagerwald nennen, zeigt jedoch, dass die Geschichte des dort beheimaten Staatlichen Durchgangslagers nach wie vor präsent ist. Bevor die Erinnerungen allerdings komplett verblassen, hat die promovierte Historikerin Hertha Schwarz im Auftrag des Landkreises die Historie dieses Ortes recherchiert. Die Ergebnisse dieser Forschung, die mithilfe des EU-Förderprogramms „Leader“ und Kreismitteln möglich wurden, liegen jetzt in gedruckter Form vor.
„Die Unterbringung von Menschen war nie vorgesehen“, betont Hertha Schwarz bei der Buchvorstellung. Vielmehr habe die Reichsluftwehr noch vor dem Zweiten Weltkrieg eine sogenannte Munitionsniederlage mit zwei verschiedenen Barackentypen zur Unterbringung von Munition im Kehrhau im Schutz des Waldes gebaut, die bei Kriegsende weitgehend unbeschädigt waren, aber dann angesichts des allseits herrschenden Mangels als Abbruchhäuser genutzt wurden.
Es kamen immer mehr
Nachdem mit der Konferenz von Potsdam die Vertreibung der deutschen Bevölkerungsteile aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn legitimiert worden waren, konnten die angrenzenden Bundesländer den steigenden Zustrom Vertriebener nicht mehr bewältigen. Daher wurden im Winter 1945/46 die Baracken im Kehrhau notdürftig instandgesetzt.
Der erste Vertriebenentransport kam am 28. März 1946 im Kehrhau an. Von da an riss der Zustrom nicht mehr ab: Bis zum Januar 1947 waren mehr als 24 600 Personen im Lager aufgenommen und registriert worden, bevor sie in der Regel nach zwei bis drei Wochen in die umliegenden Gemeinden verteilt wurden. Im Sommer 1946 hätten über 2000 Menschen gleichzeitig im Lager gelebt – und damit mehr als doppelt so viele wie Unterjettingen damals an Einwohnern gezählt habe, machte Hertha Schwarz die Dimension der damaligen Aufgabe deutlich: „Das Lager war für diese riesige Zahl völlig unzulänglich.“ In den Wohnbaracken standen die Betten dicht an dicht, für weitere Einrichtungsgegenstände war fast kein Platz. Zeitweise hätten die Bewohner sogar im Freien essen müssen, da die Speisebaracke als Wohnraum gebraucht wurde, hat Hertha Schwarz herausgefunden. Auch die Stromleitung sei „gnadenlos überlastet“ gewesen.
Dann kamen die Heimatlosen
Mit dem Ende der Vertriebenentransporte hört die Geschichte des Durchgangslagers jedoch nicht aus, sondern es folgten, wie Hertha Schwarz ermittelt hat, noch vier weitere große Abschnitte. Ab 1947 diente das Lager unter anderem als Durchgangsstation für deutsche Flüchtlinge aus Dänemark, für entlassene Kriegsgefangene aus dem Kriegsversehrtenlager Göppingen und für illegale Grenzgänger aus der sowjetischen Besatzungszone. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei zogen 1948 Flüchtlinge aus dieser Region im Kehrhau ein. Noch im selben Jahr folgten sogenannte Displaced Persons (DPs) aus italienischen Auffanglagern – DPs sind Menschen, die sich nicht dort befanden, wo sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit hingehörten. Für viele der „bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die nur vorübergehend bleiben und sich um Auswanderung bemühen sollten“, sei das Lager zur Sackgasse geworden, berichtete Hertha Schwarz. Nachdem die Betreuung der DPs von der Internationalen Flüchtlingsorganisation zur deutschen Verwaltung überging, wurde das Durchgangslager geschlossen und an dessen Stelle ein Wohnheim für heimatlose Ausländer eröffnet, das noch bis Ende 1961 bestand.
Der lange Schatten des Krieges
Eine „großartige Integrationsleistung“ habe im Landkreis mit der Aufnahme der Geflüchteten und Vertriebenen im Kehrhau ihren Anfang genommen, betonte Landrat Roland Bernhard bei der Buchvorstellung im Jettinger Bürgersaal, zu der statt der erwarteten 60 bis 70 Interessierten insgesamt 200 Personen gekommen waren. Für Jettingens Bürgermeister Hans Michael Burkhardt sind die noch sichtbaren Überreste des Lagers auch ein „Mahnmal für den Frieden“. Denn es zeige, dass im Zweiten Weltkrieg nicht nur Millionen Menschen starben, sondern in dessen „langem Schatten“ auch viele ihre Heimat verloren hatten. Im Rahmen des Buchprojekts ist im Kehrhau auch ein Informationspfad mit Schautafeln entlang der ehemaligen Hauptstraße eingerichtet worden. Außerdem werden mehrere aufgezeichnete Zeitzeugengespräche auf:
www.zeitzeugen-bb.de hinterlegt.
Das 322-seitige Buch „Das Lager im Kehrhau – Geschichte des Staatlichen Durchgangslagers Unterjettingen (1946-1961)“ ist im Habelt Verlag erschienen. Es ist für fünf Euro im Buchhandel, an der Infotheke des Landratsamts und bei der Poststelle im Rathaus Jettingen erhältlich.