Der Nachlass des Dichters Rainer Maria Rilke geht nach Marbach: In Berlin hat das Deutsche Literaturarchiv die vielleicht wichtigste Erwerbung in seiner Geschichte vorgestellt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Hell und dunkel verhalten sich bei dem vor knapp hundert Jahren gestorbenen Dichter Rainer Maria Rilke merkwürdig zueinander. Einerseits steht er als einer der Großmeister der deutschen Sprache im Rampenlicht, „Tatort“-Kommissare touren mit seinen Gedichten auf bedeutungsschwangeren Lippen durch die Lande. Andererseits zählen seine reifen Werke zu den komplexesten und verrätseltsten Monumenten der klassischen Moderne. Popularität und Priestertum, Er- und Verschlossenheit gehen Hand in Hand. Was passiert, wenn er in die falschen Hände gerät, sieht man am Schicksal seines vielleicht bekanntesten Gedichts, durch dessen Stäbe unzählige Schüler im Deutschunterricht schon einmal geblickt haben. 2018 ging bei einem Waldbrand das Originalmanuskript des „Panthers“ in der kalifornischen Villa des „Wetten dass . . ?“-Moderators Thomas Gottschalk in Flammen auf, wo es als Wandschmuck diente.

 

Wie gut, dass es Archive gibt. Und eines der bedeutendsten unter ihnen, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, kann nun einen wahrhaft kapitalen Neuzugang verkünden. Denn auch wenn der 1875 in Prag geborene Autor zu den Zitiertesten und Meistübersetzten zählt, hat er eine weitgehend unbekannte Seite. Die verlor sich bisher im Dunkel eines unauffälligen Einfamilienhauses im badischen Gernsbach. Dort hüteten die Enkel des Dichters seinen Nachlass. Christoph Sieber-Rilke war Leiter einer ortsansässigen Papierfabrik, er starb 2014, im letzten Jahr folgte ihm seine Frau Hella. Nun haben die drei Töchter des Paars den Bestand an das bedeutendste Papiererhaltungsunternehmen des Landes, das Deutsche Literaturarchiv, verkauft.

Ergriffenheit und Staunen

Und was dessen Chefin, Sandra Richter, in der Berliner Landesvertretung Baden-Württembergs am Donnerstag der Öffentlichkeit vorstellt, kann durchaus, wenn man den Kult um den Dichter beim Wort nehmen wollte, mit der Öffnung eines Pharaonengrabs verglichen werden. Eines, das Eingeweihten zwar längst in Teilen offen stand, aus dem immer wieder Stücke in Umlauf kamen, etwa bei der schönen Marbacher Ausstellung „Rilke und Russland“, das in seiner ganzen Fülle aber den Atem verschlägt. Oder in einen Zustand versetzt, den die Marbacher Direktorin nur in Rilke-Vokabeln fassen kann: ergriffen, staunend – in jedem Fall ein Superlativ. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth spricht von der „vielleicht wichtigsten Nachlass-Erwerbung in der Nachkriegsgeschichte“.

10 000 handschriftliche Seiten mit Werkentwürfen und Notizen, Zeichnungen und 360 bisher unbekannte Fotografien aus allen Lebensphasen, mit Gebrauchsspuren durchsetzte Bücher und Zeitschriften aus seiner Bibliothek. Buch soll das erste Wort Rilkes gewesen sein. Im Bestand findet sich auch jenes, in das er sein letztes Gedicht schrieb, „Komm du, du letzter den ich anerkenne“. Vergleichsweise schmal ist das literarische Werk, umso umfangreicher der Briefwechsel. Mit allen, die in seiner Zeit Rang und Namen hatten, stand der charismatische Kunst-Gott in Austausch: Ein schönes Blatt der 8800 Briefe ziert ein Schlangengemälde, Paul Valéry verabredet sich darauf zur Soiree bei der Cembalistin Wanda Landowska.

Empfänger göttlicher Botschaften

„Welcher Rilke kommt nun zum Vorschein“, fragt Sandra Richter und ist sich sicher, dass die Erschließung des Nachlasses nicht nur sein Bild, sondern auch das der Moderne, in deren Einzugsbereich er stand, verändern wird. Wie man sich das vorstellen muss, zeigt der Leiter der Handschriftenabteilung, Ulrich von Bülow, an ausgewählten Beispielen. Der selbst beförderte Mythos des Empfängers höherer Botschaften gedeiht auf dem Grund harter Arbeit. Und an seinem Werk weben die Zeitgenossen mit. 86 Taschenbücher voller Exzerpte legen die Quellen offen, aus denen er schöpfte. Das frühe Blatt eines Nachtgedichts zeigt die Übungsfläche des fleißigen Worthandwerkers, Mettrank reimt sich darin auf Betbank. Ein spätes zeigt, wie es ist, im Bann höherer Gewalten zu schreiben: Die letzten Worte in einem Entwurf zur 9. Duineser Elegie brechen in wilden Zügen aus dem Schriftbild aus, als hätte sie der Sturm diktiert: „Im Hingang es hat keine andere Zuflucht“. Nichts davon findet sich mehr in der endgültigen Fassung.

Auch hartnäckiges Nachfragen kann Sandra Richter den Preis, der für dieses Rilke-Wunder bezahlt wurde, nicht entlocken. Grundsätzlich spreche man nicht über Erwerbssummen, in diesem Fall habe man Stillschweigen zusätzlich vertraglich vereinbart. Eine Vorstellung von der Höhe der Summe gibt die stattliche Mäzenatenriege: Am Kauf beteiligt war das Land Baden-Württemberg, die Kulturstiftung der Länder, die Wüstenrot-, Berthold-Leibinger- und Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung.

„Errichtet keinen Denkstein“ beginnt eines der Orpheus-Sonette, dessen Autograf Sandra Richter zeigt. Das wolle man beherzigen und den Dichter stattdessen zum Sprechen bringen. Zum 150. Geburtstag ist eine große Ausstellung geplant: der ganze Rilke. Bereits im kommenden Jahr soll eine Festveranstaltung stattfinden.

Übrigens hat Thomas Gottschalk inzwischen einen Wohnsitz in Baden-Baden, in nächster Nähe zu Gernsbach. Höchste Zeit, dass Rilke nach Marbach kommt.

Rilke-Archive

Schweiz
 Die größte öffentliche Rilke-Sammlung außerhalb des Gernsbacher Archivs und der Marbacher Sammlung befindet sich im Schweizer Literaturarchiv in Bern. Neben fast 2000 Briefen enthält es die Handschrift des zweiten Teils der Aufzeichnungen des „Malte Laurids Brigge“.

USA
Die berühmte Rilke-Sammlung Richard von Mises wird heute in der Universitätsbibliothek von Harvard aufbewahrt. Sie enthält neben anderem Gedichte aus dem früheren Besitz von Heinrich Vogeler, das Manuskript „Die weiße Fürstin“ und eine vollständige Handschrift der Zweiten Duineser Elegie sowie hunderte Briefe von Rilke an Sidonie von Nadherny.