Er war Hamlet, er war Faust, er war der Engel in Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“. Er konnte sogar Adolf Hitler spielen, 2004 in „Der Untergang“. Der Schweizer war einer der größten deutschsprachigen Schauspieler. Ein Nachruf.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart/Zürich - Seine Eltern – die Mutter armer Leute Kind aus Norditalien, der Vater Schweizer Arbeiter vom Land – waren noch nie in einem Theater gewesen, als ihr Bub, geboren 1941 in Zürich, das erste Mal auftrat. Das Stück hieß „Der Verlorene Sohn“, wurde im Gasthofsaal eines Zürcher Vororts gegeben, und Bruno Ganz, Konfirmand seinerzeit, kannte ebenfalls noch kein Schauspielhaus von innen. Fortan ging er öfter hin, setzte sich in den Vorstellungen gerne hinter den Beleuchter und dachte, schüchtern, wie er war, das sei das Richtige für ihn: die Leben anderer Leute annehmen. Sich verwandeln. Spielen halt. So zumindest hat Bruno Ganz seine professionelle Herkunftsgeschichte später erzählt.

 

Nicht bestätigt von ihm, aber jederzeit vorstellbar, ist die Anekdote, der zufolge Bruno Ganz im Zürcher Theater am Hechtplatz, wo es ihn nach der abgebrochenen Schule und ein bisschen Schauspielunterricht hin verschlug, seine wirklich große Laufbahn von einer Leiter herab eröffnete mit dem nicht gerade defensiven Satz: „Mir stinkt’s!“ Seltsam oder nicht – relativ am Ende seines Lebens spielte der alte, fast 80-jährige Ganz noch einmal eine Rolle, in der er im Grunde genommen exakt mit dieser Sentenz ausgekommen wäre. Da war er der stets misstrauisch bleibende, wiewohl dann doch kinderlieb werdende Almöhi in einer Neuverfilmung von „Heidi“. Die Autonomie ist dem Alten heilig, fernab von der Welt, auf die er herunter-, gar nicht mal herabschaut. Bauer zu sein im Übrigen musste Bruno Ganz sich nicht extra beibringen. Das lag in der Familie.

Die große Karriere begann in Bremen

Einerseits trennen den Almöhi und Bruno Ganz’ erste große Rolle, Goethes Tasso im gleichnamigen Stück, mit deren Darstellung Ende der sechziger Jahre Rezeptionsgeschichte geschrieben wurde (am Bremer Theater von Kurt Hübner inszenierte der junge Peter Stein), Welten. Andererseits nur ein historischer Wimpernschlag. Den Blick von außen auf eine Figur nämlich, der Distanz erfordert, kultiviert Bruno Ganz schon damals. Wer Ausschnitte der Inszenierung sieht (Bruno Ganz damals schon mit tiefen Stirnfalten), mag immer noch erkennen, dass sich mit einem Mal und durch Ganz im Zentrum die Perspektive änderte: Das Theater krempelte seine Daseinsform um und seinen Sound. Der Text wurde nicht mehr nur zelebriert, sondern be- und hinterfragt, und Bruno Ganz war schon deswegen der Richtige für eine stilistische Revolution, weil er von Anfang an eine einmalig singende Stimme hatte: warm und weich, mit diesen ein wenig exotischen a- und o-Vokalen, die man als Schweizer nun einmal mitbringt. Insgesamt hatte er etwas Orpheushaftes (wie viel später, wenn er Friedrich Hölderlin las oder T. S. Eliot), auch wenn die Steine nicht gleich zu weinen begannen. Aber gefangen genommen war man im Nu.

Von Beginn an schien Bruno Ganz, der mit Stein an die Berliner Schaubühne wechselte, wo das Mitbestimmungsmodell am Theater greifen sollte, der ideale Mann für die ein wenig der Welt Entschwebten und die buchstäblich Verrückten in ihrer freundlicheren Erscheinungsform. Also spielte er Kleists Prinzen von Homburg, Schillers Franz Moor, Hölderlins Empedokles (im Riesenprojekt von Klaus Michael Grüber im Berliner Olympiastadion). Hamlet natürlich, auch unter Grüber: schlank, federnd und fast arrogant in der Ausstellung seiner Zweifel. Dass Sein oder Nichtsein ihm tatsächlich eine Lebensfrage wäre, darüber gab es bei Ganz keine Diskussion, nur schien er mehr über seine eigene Existenz zu sprechen als über ein allgemeines Problem. So richtig also ließ er auch Hamlet als Rolle nicht an sich heran. Elegant arbeitet er sich an einer Monsterfigur ab, ohne das Monströse in sie und sich wirklich hineinzulassen.

Wim Wenders machte ihn zum Engel

Auf der spielerischen Seite kamen ihm, als Liebhaber der Halbdistanz, Figuren von Botho Strauß entgegen (zum Beispiel der Oberon in der Shakespeare-Variation „Der Park“). Das war, nachdem Bruno Ganz einen ersten längeren Ausflug von der Bühne hin zum Film gemacht hatte, wo seine Fähigkeit zum Fremdeln mit der Welt von manchen Regisseuren noch kongenialer eingesetzt wurde als auf dem Theater. Wim Wenders beispielsweise merkte als erster, dass man dem Spiel von Bruno Ganz ein entsprechend starkes Pendant suchen musste, um es richtig auszureizen. Er fand (und erfand ihn gleich mal neu mit) Dennis Hopper in „Der amerikanische Freund“, wie er eine ähnlich starke Gegenfigur in „Der Engel über Berlin“ ins Spiel brachte: Peter Falk. Während die anderen auf der Erde lebten, blieb Bruno Ganz, nicht asymptomatisch, ein ganz einmaliger Geist, über den Dingen schwebend, wiewohl um Bindung bemüht. Viel mehr Drumherum als handwerklich ebenbürtige Kollegen konnte Ganz darüber hinaus nicht brauchen. Er blieb, obwohl Ensemblespieler, immer ein großer Einzelner, und so war es nicht weiter erstaunlich, dass er der Degradierung von Stücken zu willkürlich drangsalierbaren „Vorlagen“, wie es das Theater der neunziger Jahre liebte, kaum etwas abgewinnen konnte.

Ganz wurde das Gesicht des Autorenfilms von Reinhard Hauff und Werner Herzog bis hin zu Theo Angelopoulos. In „Die Ewigkeit und ein Tag“ hatten sich da zwei gefunden: der melancholische Grieche, der bläulich-schwarze Bilder entwarf, in denen jeder andere als Bruno Ganz ertrunken wäre. Ganz aber rettete sich. Manchmal mit einem Anflug von traurigem Lächeln, das für immer mit seinem Gesicht und seiner Darstellungskraft verbunden bleiben wird. Wie man überlebt, wenn man eigentlich nicht mehr leben kann (oder will), war überhaupt ein eigenes Bruno-Ganz-Fach.

Adolf Hitler in seinen letzten Tagen – aber warum?

Halb erschrocken, halb unerschrocken stellte Ganz sich schließlich zwei eigentlich unspielbaren Rollen. Zum einen mutierte er im Kinofilm „Der Untergang“ zu Adolf Hitler, mit Parkinson und rollendem R; der Produzent Bernd Eichinger hatte seinerzeit nicht nachgelassen: Nur Bruno Ganz könne den siechen „Führer“ angemessen gebrochen spielen. Und, ja, er konnte auch das, andererseits aber auch nicht recht die Frage beantworten, was denn mit seiner Darstellung jetzt wirklich gewonnen sei.

Ähnlich olympisch war die Herausforderung, die Hauptrolle bei „Faust I & II“ zu übernehmen, den Peter Stein Anfang des neuen Jahrhunderts wort-, ja silbengetreu aufführen ließ, erst auf der Expo in Hannover, später in Berlin und Wien. Ganz fühlte sich bei Stein immer ein wenig in der Schuld, aber vollkommen eins mit sich war er nicht, als der Marathon losging. Inszenierung und Hauptdarsteller hatten etwas Überladenes, und wenn es zu viel wurde, war Ganz, eher der Mann des (leisen) Moments, eigentlich falsch.

Er trug den Iffland-Ring

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit trug der Schweizer seit 1996 den Iffland-Ring, jenen Halbedelstein, den angeblich Goethe dem Theatermacher Wilhelm Iffland übergeben haben soll – und der „dem jeweils bedeutendsten und würdigsten Bühnenkünstler des deutschsprachigen Theaters auf Lebenszeit gehören“ soll (dass es den nicht gibt, ist klar, der Ring aber nun mal in der Welt).

Bruno Ganz war Schauspieler, einer der feinsten und hintersinnigsten, den wir hatten, sich aber stets bewusst, dass er nicht den Weltgeist verkörpere, sondern eine Rolle reproduziere. Er hielt Abstand. Am Schluss konnte man das noch einmal in dem sehr bösen Film „The Party“ von Sally Potter sehen, in dessen kammerspielartigem Verlauf ein paar Intellektuelle auch den letzten Rest an Verstand und Würde dem Wahn opfern. Gottfried, den Bruno Ganz verkörperte, war eine Art Buffo-Rolle. Während die anderen sich mental zerfleischten, durfte er zur Meditation übergehen. Es stank ihm, aber er saß, wie am Anfang seiner Zeit, auch ein Stück weit weg von den anderen. Nun ist Bruno Ganz gestorben, nach längerer Krankheit, im Alter von 77 Jahren in Zürich.