Nachruf auf einen Dorfhund Sniff ist tot – und fehlt nicht nur Gans Lotte

Sniff wurde 15 Jahre alt.Foto: Robin Szuttor Foto:  

Aus unserem Plus-Archiv: Sniff war ein Dorfhund, der sein Leben nach eigenen Vorstellungen leben wollte – und durfte. In Starkholzbach bei Schwäbisch Hall vermisst ihn nicht nur Gans Lotte. Ein Nachruf.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Starkholzbach - Das Dorf Starkholzbach liegt ein paar Fahrminuten von der Kulturstadt Schwäbisch Hall entfernt an einem Badesee und am Rand eines Naturschutzgebiets. Gleich neben dem Ortsschild steht ein Sackgassen-Zeichen. Hinter der Ansiedlung kommt nur noch Wald. Hier hört die Welt auf.

 

Starkholzbach hat ein Dutzend Häuser und ein paar Scheunen, eine Bushaltestelle und einen öffentlichen Briefkasten. Hier leben 52 Menschen, doppelt so viele Kühe, einige Katzen, Schweine, Pferde, Schafe, Hühner. Und bis vor kurzem lebte hier Sniff.

Sniff war ein Mix aus Border Collie und Berner Sennenhund. Sein Fell war weich, lang, schwarz-weiß mit rötlichen Einsprengseln. Sein hervorstechendes Charaktermerkmal: die Freiheitsliebe. Sniff war keiner, der seinem Frauchen an der Wade klebte und nach neuen Kommandos lechzte. Sniff war einer, der sein Leben nach eigener Vorstellung leben wollte – und leben durfte. Im Alter von zehn Wochen kam er ins Dorf. 15 Jahre blieb er. Jetzt ist er gegangen.

Sniff war so eigenständig wie kein anderer Hund. Er lag meistens im Gras bei der Mauer an der Haltestelle, wo morgens der Schulbus hält und dann für den Rest des Tages keine öffentliche Verbindung mehr nach draußen besteht. Von da aus konnte er im Lauf der Jahre beobachten, wer im Dorf wieder ein schulpflichtiges Kind hatte und wessen Spross aus dem Gröbsten draußen war.

Sniff hatte das Dorf im Blick

Von seinem Grasbödele aus sah er, wenn wieder Ernte- oder Düngezeit war. Hier hatte er den Tageslauf im Blick: den Milchlaster, die Uralt-Traktoren der kleinen Bauern, die Monsterschlepper der großen. Das Postauto mittags um zwölf. Die vielen Spaziergänger, die die Dorfstraße vor allem im Sommer zum Ku’damm der Hohenloher Ebene machen.

Interessant wurde es, wenn die Gäste ebenfalls einen Hund mit sich führten. Den schaute sich Sniff dann ganz genau an. Dafür erhob er sich und ging den Besuchern entgegen. Zielsicher, aber nie unfreundlich. Er kam mit jedem aus. Dennoch war manchen Hundehalter nicht ganz geheuer, wie sich ihnen da ein unbeaufsichtigter Hund näherte. Sie verließen das Dorf zügigen Schritts.

Sniff begleitete die Tiere bis zum Ortsausgang. Die anderen Hunde schauten meistens noch lange zurück. Mit viel Respekt, das sah man ihnen an. Was für eine Type, dachten sie dann vielleicht. Warum muss der nicht an die Leine? Warum darf der so frei sein? Ohne Chef? Weil Sniff der Chef war.

Seine Tage sahen so aus: Morgens raus aus dem Haus. Runter zur Scheuer, wo er oft einen Napf voll Katzenfutter vorfand oder eine Nachbarin ihm was Leckeres zusteckte. Nach dem ersten Snack dann zum richtigen Frühstück bei Frauchen. Dann wieder raus. Abends zurück ins Haus zum Vesper, danach auf dem Sofa ausruhen. Um 23 Uhr noch mal für eine halbe Stunde raus. Dann Schlafenszeit auf den Wohnzimmerfliesen. Die waren ihm lieber als sein Körbchen.

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Wenn er Lust hatte, ging er Gassi mit sich selber. Da brauchte er niemanden dazu. Oft schlenderte er runter an den See, vorbei an den Pferden, und schaute den Blässhühnern zu. Oder in die andere Richtung bis zum Kiosk. Oder an dem Maisfeld entlang bis zur Weide, wo die Kamerunschafe standen. Wenn er genug geschnuppert hatte, drehte er wieder um und nahm auf dem Rückweg noch einen Schluck Wasser aus der Vogeltränke des einen oder aus dem Keramiktopf im Garten des anderen Nachbarn.

Stand ihm der Sinn nach etwas Aufmerksamkeit, legte er sich nicht ins Gras, sondern mitten in die einzige Kreuzung des Dorfes. Ortsfremde Fahrer wussten dann nicht, was tun. Weil hupen nichts brachte, versuchten sie irgendwann, ihr Auto in Zentimeterarbeit an diesem Hund vorbei zu manövrieren. Sniff blieb cool. Doch es gab auch die Autos von ein paar Einheimischen. Wenn er die von weitem sah, konnte er ganz flott aufstehen. Weil bei denen wusste er: Die bremsen nicht. Und er war ja nicht dumm.

In den letzten Monaten hatte er ständige Begleitung von Lotte, der Gans. Die hatte Sniffs Frauchen zusammen mit Liese, einer anderen Gans, auf einem Tiermarkt gekauft und so vor dem Schlachter gerettet. Liese und Lotte. Als Liese Anfang des Jahres tot im Stall lag, trauerte Lotte sehr. Ihre Einsamkeit, ihr Wunsch, zu jemandem zu gehören, wurden so groß, dass sie nach einem neuen Partner suchte – und sich an Sniff hängte.

Lotte watschelte hinterher

Damit war’s für ihn vorbei mit der Eigenständigkeit – und das auf seine alten Tage, wo man sich ja nur noch schwer an Neues gewöhnt. Lotte legte sich morgens neben ihn aufs Grasbödele. Wenn er aufstand, stand sie auch auf. Wo Sniff hinging, ging sie hin. Ging er nach links, ging sie nach links. Blieb er stehen, blieb Lotte stehen. Spazierte er zum See, watschelte sie ihm hinterher.

Ob Sniff das alles insgeheim angenehm oder eher unerträglich fand, ist schwer zu sagen. Er schien Lotte jedenfalls nie groß zu beachten. Und außer ein paar ratlosen, manchmal schon hilflosen Blicken, ließ er sich zu keiner Unhöflichkeit hinreißen. Ganz Gentleman. Lotte nahm ihm seine Zurückhaltung nicht übel. Liebe verzeiht vieles.

Jedenfalls ließ sie nie von ihrer Überzeugung ab, in diesem stattlichen Typen die richtige Wahl getroffen zu haben. Wollte sich jemand Sniff nähern, schnatterte sie schier rasend vor Eifersucht. Wenn die beiden allein waren, erzählte sie ihm viel. Endlose Monologe. Vielleicht kam Sniff zugute, dass er am Ende nicht mehr so gut hörte.

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In letzter Zeit kam er auch immer schlechter daher. Die Hüfte. Sein Frauchen ging mit ihm zum Tierarzt, zur Physiotherapie, zum Osteopathen, der Sniff noch mal auf die Beine half. Aber dann ging es ihm wieder schlechter. Keine leichte Entscheidung für das Frauchen. Sie gab ihm Schmerzmittel, denn sein Lebenswille war stark. Am Ende wackelte er nur noch durchs Dorf. Oder er stand minutenlang da wie eine Wachskopie seiner selbst. Der Blick leer. Oder weit weg.

Vielleicht traten in solchen Momenten Erinnerungsbilder vor sein inneres Auge: Aus seiner Jugend. Was war er für ein Laufwunder als junger Kerl. Frauchen auf dem Pferd, er galoppierte nebenher – zwei, drei Stunden – pah, das konnte ihn doch nicht an seine Grenzen bringen.

Oder in besonders kalten Wintern, wenn er mit den Dorfkindern zum zugefrorenen See runterging und auf dem Eis schlitterte. In der Sommerhitze sprang er gern vom Steg ins Wasser. Er war ein echter Draufgänger und begnadeter Schwimmer.

Der verschluckte Ball

Oder die Sache, als er mal einen Ball verschluckt hatte. Was für eine Aufregung. Der Arzt dachte erst, es wäre nur eine Magenverstimmung. Aber es wurde einfach nicht besser. Schließlich wurde er geröntgt, und da sah man dann diesen Ball im Bauch. Sniff musste notoperiert werden. Als ihn sein Frauchen wieder aus der Heilbronner Tierklinik abholte, wie glücklich er da war.

Irgendwann kam Linda, eine Pekinesenmischung, in die Familie. An das temperamentvolle Mädchen musste sich Sniff erst gewöhnen. Anfangs stahl sie ihm die Schau – ihm, der bislang der uneingeschränkte König war im Haus. Aber bald ging er gern mit ihr und Frauchen spazieren. Linda an der Leine, er als eine Art Gassi-Gast auf freiwilliger Basis. In letzter Zeit blieb er lieber liegen.

Nach Rücksprache mit dem Tierarzt beschloss der Familienrat schließlich: Das ist keine Lebensqualität mehr für ihn. Als er auf dem Hof eingeschläfert wurde, wollte Lotte unbedingt gucken, was da passiert und drängte sich immer wieder vor. Aber sie hat es wohl nicht kapiert. Jetzt liegt ihr Lebenspartner hinter dem Hühnerstall begraben. Auf einem Holzkreuz steht sein Name: Sniff.

Lotte sucht ihn überall. Geht alle Stellen ab, wo er früher immer hingegangen ist: das Grasbödele, die Vogeltränke, die Hütte, wo die Katze wohnt, den Nachbarsgarten. Aber er ist nicht mehr da. Er fehlt ihr. Er fehlt seiner Familie. Und dem ganzen Dorf.

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