Oscar Niemeyer, der Architekt und Planer Brasilias, ist kurz vor seinem 105. Geburtstag in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro gestorben. „Brasilien hat ein Genie verloren“, sagte die Staatspräsidentin Dilma Roussef.

Rio de Janeiro - „Ich kann nicht stillsitzen, ich bin neugierig, ich will wissen.“ Wenn ein Mann, der die hundert überschritten hat, so etwas beiläufig über sich selbst sagt, kommt die Frage nach dem Geheimnis des gesunden Alterns gar nicht erst auf. In einer Lebensphase, in der andere längst in Rente und nur noch auf sehr wenige Dinge neugierig sind, hat Oscar Niemeyer noch zu jedem runden Geburtstag Journalisten und Gäste durch unbändige Vitalität und Lebenslust verblüfft.

 

Zum Neunzigsten, zum Fünfundneunzigsten, zum Hundertsten – immer wieder war in Würdigungen zu lesen, der brasilianische Architekt fahre weiterhin jeden Tag zur Arbeit, mache unermüdlich neue Entwürfe, rauche dazu viele Zigarillos, trinke Unmengen Kaffee und mache immer noch kokette Bemerkungen über die Verwandtschaft zwischen den Kurven seiner Architektur und jenen des weiblichen Körperbaus. 2006, mit 99 Jahren, hat er zum zweiten Mal geheiratet – seine 38 Jahre jüngere Sekretärin Vera Lúcia. Auf den Zeichentischen seines Büros lagen zuletzt noch Projekte wie eine Kathedrale im brasilianischen Belo Horizonte und eine Bibliothek in Foz des Iguacu. Nun ist der Wegbereiter der brasilianischen Moderne wenige Tage vor seinem 105. Geburtstag gestorben.

Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho wurde am 15. Dezember 1907 in Rio de Janeiro als Sohn eines deutschstämmigen Kaufmanns geboren. Er war eines von sechs Kindern. Von 1929 bis 1934 studierte er an der Escola Nacional de Belas Artes in Rio Architektur. Nach seinem Abschluss begann er im Büro von Lucio Costa zu arbeiten, dem seinerzeit bekanntesten Verfechter moderner Architektur in Brasilien. Costa war – ähnlich wie Le Corbusier – zunächst prägendes Vorbild, später dann enger Projektpartner Niemeyers.

Der wichtigste Auftrag seines Lebens

Gemeinsam mit Le Corbusier bauten Costa und Niemeyer zwischen 1937 und 1943 das Ministerium für Erziehung und Gesundheit in der damaligen Hauptstadt Rio. 1939 planten Costa und Niemeyer den brasilianischen Pavillon für die Weltausstellung in New York. Das 1952 vollendete Gebäudeensemble der Vereinten Nationen in New York mit der unvergleichlich eleganten Hochhausscheibe am East River ist ebenfalls ein Gemeinschaftswerk von Le Corbusier und Oscar Niemeyer.

1953 fand die internationale Kunstbiennale in São Paulo erstmals in Niemeyers Biennale-Pavillon statt. Danach erhielt er den wichtigsten Auftrag seines Lebens: Er wurde zum Chefarchitekten der neugegründeten Hauptstadt Brasilia berufen. Die Absicht, den Regierungssitz von der Küste ins Landesinnere zu verlegen, hatte damals schon lang bestanden. Der 1956 neugewählte Präsident Juscelino Kubitschek setzte das Projekt innerhalb kürzester Zeit um. Costa gewann den städtebaulichen Wettbewerb, Niemeyer entwarf alle öffentlichen Gebäude, wieder arbeiteten beide im Team zusammen.

Es entstand eine Hauptstadt vom Reißbrett, auf einer Hochebene mitten im Nichts. Die Stadtgestalt basiert auf der Grundrissform eines Flugzeugs mit einer linearen und einer gekrümmten Achse. Markantester Punkt ist der Platz der drei Gewalten, auf dem der Nationalkongress mit kuppelförmigem Senatssaal, schalenförmigem Abgeordnetensaal und zwei schlanken Verwaltungshochhäusern steht.

„Das Leben ist wichtiger als Architektur“

Getrieben war Oscar Niemeyer zeit seines Lebens nicht nur von der Suche nach Schönheit, sondern auch vom Kampf um Gerechtigkeit und dem idealistischen Streben nach einer besseren Welt. „Das Leben ist wichtiger als Architektur“, sagte der überzeugte Marxist. Eines Tages werde „die Welt gerechter sein und das Leben auf eine höhere Ebene stellen, es wird dann nicht mehr von Regierungen und herrschenden Klassen begrenzt sein“. Die Architektur könne der Welt jedoch „einen humaneren Sinn“ geben.

Nach der Machtergreifung des Militärs in Brasilien erhielt er als Mitglied der Kommunistischen Partei 1964 Berufsverbot, wurde mehrfach verhaftet und ging schließlich freiwillig ins Exil nach Europa. In dieser Zeit realisierte er unter anderem ein Gebäude für die KP Frankreichs in Paris (1967 –1972), das Verlagsgebäude Mondadori in Mailand (1968) sowie ein Kulturzentrum in Le Havre (1972).

Erst 1982 kehrte er endgültig in sein Heimatland zurück, wo er sogleich das Bauen wieder aufnahm. Bis 1984 entstanden unter anderem ein Indianer-Museum in Brasilia, Denkmäler für den früheren Präsidenten Kubitschek sowie Folteropfer lateinamerikanischer Diktaturen und das „Sambódromo“ für den Karneval in Rio. 1996 wurde das an ein Ufo erinnernde Museum für zeitgenössische Kunst in Niterói eröffnet, 2002 ein weiteres Museum in Curitiba, 2004 und 2005 entstanden nach seinen Plänen eine Konzerthalle und ein Auditorium in São Paulo.

Walter Gropius krittelte an Niemeyers Architektur herum

Das Werkverzeichnis des Architekten umfasst mehr als sechshundert Bauten, darunter auch zahllose Schulen. In Deutschland konnte er nur ein Projekt verwirklichen: ein Wohnhaus für die Internationale Bauausstellung IBA 1957 im Berliner Hansaviertel. Ein 2005 geplantes Erlebnisbad in Potsdam blieb dagegen unrealisiert.

Mit dem Pritzker-Preis, den er sich 1988 mit Gordon Bunshaft teilte, und dem Praemium Imperiale im Jahr 2003 erhielt Niemeyer neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen die beiden angesehensten und höchstdotierten Architekturpreise der Welt. Aber er war keineswegs immer unumstritten. Es gab immer Kritiker, die sein Werk als formalistisch und unfunktional bezeichneten.

Sein Kollege Walter Gropius gefiel Niemeyers eigenes Wohnhaus zwar, er fand aber nicht gut, dass man es nicht in Serie bauen konnte. Ein Hohn für Niemeyer, der an nichts weniger dachte, als die Serientauglichkeit seiner Architektur – ihm ging es um Sinnlichkeit, um die Einmaligkeit jedes Ortes und jeder räumlichen Erfahrung. Sein Hauptantrieb beim Bauen sei es, Dinge „anders“ zu machen, hat der Brasilianer gesagt. „Ich will, dass die Leute stehen bleiben und überrascht sind, was sie sehen.“

Am 5. Dezember ist Oscar Niemeyer mit 104 Jahren in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro gestorben. Er erlag einer Infektion der Atemwege, wie eine Sprecherin des Krankenhauses Samaritano mitteilte. Die brasilianische Staatspräsidentin Dilma Rousseff schrieb in einem Beileidsbrief: „Brasilien hat heute ein Genie verloren. Niemeyer war ein Revolutionär, der Mentor einer neuen Architektur, schön, logisch und, wie er selbst sagte, erfinderisch.“