Die großartige Stuttgarter Zeichensetzerin und Gesamtkunstwerkerin Rosalie ist gestorben. Ihre Kunst war verspielt und ernsthaft, heiter und enorm hart erarbeitet. Und das Schönste: Man konnte mit ihr leben.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Kunst bedeute, steht bei Wystan Hugh Auden, die Fähigkeit zu lernen, unser Brot mit den Toten zu teilen. Das sagt sich natürlich, so nobel es klingt, vergleichsweise leicht, hat aber einen historischen Hintergrund. So nämlich funktionierte, abstrakt gesehen, das antike Theater: Mit den Mythen musste man sich unterhalten. Was auch bedeutete, dass zunächst Zuhören eine wichtige Qualität war und wäre. Und zuallererst: die Fähigkeit, in sich hineinhören zu können.

 

Als die Künstlerin Rosalie in den frühen neunziger Jahren zusammen mit dem Regisseur Alfred Kirchner für die Bayreuther Festspiele verpflichtet wurde, um für Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ das Bühnenbild zu bauen und die Kostüme zu entwerfen, erbat sie sich vom Hausherrn Wolfgang Wagner für eine Nacht den Generalschlüssel. Wagner war, wie er halt so war, nämlich brummelig-misstrauisch, hatte die Frau, die bürgerlich geerdet Gudrun Müller hieß, aber bereits als „patent“ (höchstes Lob!) in sein äußerlich raues, fränkisches Herz geschlossen.

Rosalie durfte allerhand am Grünen Hügel, selbst im Dunkeln und alleine auf der Bühne sitzen. Und so machte sie es dann auch und hörte, wie in der schönsten Opernscheune der Welt das Holz arbeitete und wie der Saal knackend ein paar Heils- und ein paar Unheilsgeschichten aus mehr als hundert Jahren erzählte. Zum Raum wurde ihr die Zeit.

Rosalie verwandelte Industrieprodukte in einen idyllischen Kosmos

Es waren, wie sie später erzählte, nicht die Äußerlichkeiten des Festspielhauses, die sie sich anverwandeln wollte. Es war sein Inneres. Rosalie wollte hören, was man nicht sehen kann. Das konnte sie, und vielleicht konnte sie es tatsächlich noch mehr als andere Künstler ihrer Güte. Später mochte man die Ergebnisse sehen – und man sah: das Gras wachsen, die Sonne aufgehen, einen Hasen springen, einen Mund küssen oder atmen, und zwar auf eine Art und Weise, dass man denken musste, so habe man diese elementaren Dinge eigentlich noch nie gesehen. Man konnte, kurzum, mit Rosalie schauen und über ihre Zeichensetzungen staunen lernen. Als würde in ihrer Kunst die Welt noch einmal neu – und besser, vielleicht. Oder jedenfalls: anders.

Denn so ging das Lied, das nicht zufällig für ihre Ausstellung 1989 in der Galerie der Stadt Stuttgart musikalisch Pate stand, Mozart hat es vertont: „Komm lieber Mai, und mache/Die Bäume wieder grün,/ Und lass mir an dem Bache/die kleinen Veilchen blühn!“ C. A. Overbecks Weise ist ein Winterlied, kein Frühlingsgedicht. Im Garten liegt noch der Schnee. Es ist ein Lied voll leiser Hoffnung und Zuversicht, man fühlt sich ein wenig an die Hand genommen. Und genau das tat Rosalie mit den Ausstellungsbesuchern, die sich mit lauter Industrieprodukten konfrontiert sahen, auf die sie sonst keinen Blick verschwendet hätten, nur dass die bunte Ansammlung sich jetzt unter Rosalies Regie in einen Kosmos verwandelt hatte, der einladender wirkte als eine vermeintlich grundidyllische Szene am Land.