Mochten auch manche den Stil von Siegfried Lenz altmodisch nennen – ihm selbst kam es auf den „Pakt mit dem Leser“ an. Als einer der wichtigsten Nachkriegsautoren hat er tiefe Einsichten in das deutsche Jahrhundert ermöglicht.

Hamburg - Fürs Krawallschlagen waren andere zuständig. Siegfried Lenz’ Weggefährten Martin Walser, Günter Grass oder Marcel Reich-Ranicki, mit dem ihn eine lange, etlichen Schwankungen unterworfene Freundschaft verband, scheuten sich selten, Öl ins Feuer des Literaturbetriebs zu gießen, und gingen keiner medialen Auseinandersetzung aus dem Weg. Er bevorzugte die leiseren, verbindlicheren Töne. Wiewohl Siegfried Lenz in den 1960er Jahren energisch für einen Regierungswechsel und die SPD eintrat, übte er vor allem im Alter Zurückhaltung und zählte nicht zu denjenigen, die moralische Integrität durch ihre Unterschrift unter permanente, gutgemeinte Appelle oder Petitionen zu beweisen suchen.

 
Lenz und Günter Grass unterscheidet vieles. Foto: dpa

Wer den 1926 im ostpreußischen Lyck geborenen Lenz persönlich kennenlernte, ihn beobachtete, wie er auf Lesungen aufs Geduldigste jeden Signierwunsch erfüllte, spürte eine Bescheidenheit, die ihm auch als Schutzschild gegenüber den Publikumserwartungen an einen Bestsellerautor diente. Zu einem solchen wurde Lenz ausgerechnet im Jahr 1968, als er seinen größten Erfolg, den Roman „Deutschstunde“, vorlegte. Die Geschichte des jungen Siggi Jepsen, der in einer Strafarbeit über den Begriff der Pflicht nachsinnen soll, griff exemplarisch Verhaltensweisen während des Nationalsozialismus auf und demonstrierte, wie die braune Ideologie nach 1945 weiterlebte. Auf untergründige Weise traf der Roman den Nerv der Zeit und machte die Forderungen der studentischen Rebellen auch für ein nicht revolutionär gesinntes Bildungsbürgertum nachvollziehbar.

1972 engagierte sich der Schriftsteller für die SPD. Foto: dpa

Ausnahme- und Grenzsituationen in literarisch glaubhafte Handlungen zu überführen macht das Erzählprinzip vieler Lenz’schen Texte aus. Sein Werk, das neben Prosa auch Theaterstücke wie „Zeit der Schuldlosen“ umfasst, setzte 1951 ein, als sich der „Welt“-Journalist in einem Hamburger Mansardenzimmer an die Abfassung seines Debütromans „Es waren Habichte in der Luft“ machte. In seinem Essay „Wie ich begann“ hielt Lenz diese außergewöhnliche Schreibsituation und seine Fähigkeit zur Konzentration fest: „Nichts beeinträchtigte meine Sammlung: weder süßsaurer Linsengeruch aus der Kochecke noch das vergnügte Palaver, das meine Frau mit Freunden hinter meinem Rücken hielt; nie kam ich in Versuchung, das auf dem Korridor trommelnde Kind meiner Wirtin unschädlich zu machen; ich war sogar in der Lage, schreibend einen Freund zu beobachten, der an meinem Arbeitstisch mit epischem Genuss eine geräucherte Makrele verspeiste.“

Seinem Stammverlag Hoffmann und Campe hielt Lenz, trotz mancher Lockrufe anderer Häuser, stets die Treue. Seine Werke, die von der Literaturkritik sehr unterschiedlich aufgenommen wurden, fanden beim breiten Publikum kontinuierlich Anklang. Vor allem mit den Humoresken „So zärtlich war Suleyken“ (1955) und „Der Geist der Mirabelle“ (1975) erschrieb er sich eine treue Lesergemeinde, die es zu schätzen wusste, dass sich hier ein an Thomas Mann und Hemingway geschulter Autor bewusst als genuiner Erzähler verstand und ästhetisch kein Neuland betreten wollte. Auf einen „Pakt mit dem Leser“ kam es Lenz an, und seine vielen Leser sahen in ihm nicht nur einen geschätzten Autor, sondern auch einen vertrauenswürdigen Weggenossen. Ein „Angebot“ wolle er mit seinen oft parabelhaften Texten machen, und es komme auf den Einzelnen an, ob und wie er diese literarische Offerte annehme und auf sein Leben beziehe.

Zu seinen Gefährten zählte auch Helmut Schmidt. Foto: dpa

Zu seinen Gefährten zählte auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt; deren Freundschaft skizzierte der Journalist Jörg Magenau in einem jüngst erschienenen Buch. Lenz selbst begriff sein Schreiben als „beste Möglichkeit“, „Personen, Handlungen und Konflikte verstehen zu lernen“, er setzte darauf, dass seine erzählerischen Versuchsanordnungen für den Leser die Chance bargen, Klarheit über moralische und politische Fragen zu erlangen. Dass Literatur als „Plädoyer für Veränderungen“ zu begreifen sei, setzte er voraus.

Immer wieder brillierte Lenz dabei in der kleinen Form. Etliche seiner untergründig komischen Erzählungen gehören zu den Klassikern der deutschen Literatur, in denen es vor kauzigen Originalen und humoristischen Einfällen strotzt. Seine Leserinnen und Lesern liebten ihn für seine Dezenz und sein humanes Ausleuchten menschlicher Schwächen. Eine autobiografisch grundierte, vielfach aufgelegte Geschichte wie „Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln“, zuerst in einem „Merian“-Heft erschienen, steht dafür exemplarisch. Sie schildert die Eigenart dänischer Gastgeber, die ein deutsches Ehepaar zum abendlichen Kaffee einladen und es mit Kranztorten und Napoleonschnitten mästen, sodass die derart mit Tausenden von Kalorien Beschwerten kaum noch in der Lage sind, den Heimweg anzutreten, und die Nacht aufrecht sitzend im Bett verbringen müssen.

Nicht zuletzt war Lenz, hier mit dem Schauspieler Jan Fedder, ein norddeutsches Original. Foto: NDR/Martinus_Ekkenga

Lenz erhielt viele Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Thomas-Mann-Preis und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hamburg. Den Georg-Büchner-Preis enthielt man ihm merkwürdigerweise vor. Gefiel sich eine sich progressiv gebende Literaturkritik lange Zeit darin, Lenz als altmodischen Erzähler abzutun, der einem überkommenen Realismus verpflichtet sei, erkannte man nach und nach wieder, welche Qualitäten seine der Tradition verhaftete Literatur besaß. Fernsehen und Film nahmen gerade in den letzten Jahren seine Stoffe („Der Mann im Strom“, „Arnes Nachlass“) dankbar auf.

Über sich selbst und sein in ruhigen Bahnen verlaufendes, ganz auf das Schreiben konzentriertes Leben sprach er ungern. „Wenn es um das Persönliche“ ging, wurde aus Lenz, wie es sein Biograf Erich Maletzke formulierte, ein beharrlicher „Schweiger“. Äußerlichkeiten bedeuteten ihm wenig. Die grüne Sitzgarnitur in seinem Haus im Hamburger Stadtteil Othmarschen, in dem er jahrzehntelang lebte, überstand alle Designentwicklungen, und auch die Krawatten und Sakkos des leidenschaftlichen Pfeifenrauchers Lenz zeigten sich von Modetrends unbeeindruckt.

Das letzte Buch in seinem Leben: Ein Text über die Freundschaft mit Helmut Schmidt Foto: dpa

Viele Jahre zog er sich mit seiner ersten, 2006 verstorbenen Frau Liselotte sommers auf die dänische Insel Alsen zurück, später in sein waldbestandenes Grundstück in der 1000-Seelen-Gemeinde Tetenhusen bei Schleswig, wo er Besuchern freudig demonstrierte, wie er fette Karpfen mit Trockenfutter anzulocken wusste. Entstanden ist in diesen Refugien ein vielschichtiges Werk, zu dessen herausragenden Arbeiten neben der „Deutschstunde“ wohl der Roman „Heimatmuseum“ sowie Erzählbände wie „Das Feuerschiff“ und „Einstein überquert die Elbe bei Hamburg“ zählen. Nicht zu übersehen ist, dass Lenz in seinem Spätwerk oft in einen altmodischen Duktus verfiel, der aktuelle gesellschaftliche Erscheinungen kaum mehr zu spiegeln vermochte. Dennoch gelangen ihm immer wieder Kabinettstücke wie die auch international erfolgreiche Novelle „Schweigeminute“ (2008), die in dezenten Tönen von der Liebe des Gymnasiasten Christian zu seiner Lehrerin Stella Petersen erzählt. Wie Lenz hier einen nachgerade zeitlosen Rahmen schuf, um die emotionalen Verwirrungen eines jungen Menschen behutsam zu erhellen, macht den eigentümlichen Reiz des inzwischen auch Schullektüre gewordenen Textes aus.

Seinen Nachlass vermachte Lenz vor kurzem dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Gleichzeitig gründete er eine Stiftung, die einen mit 50 000 Euro ausgestatteten Preis auslobte. Erster Träger wird Lenz’ Freund Amos Oz sein; der Verleihung am 14. November im Hamburger Thalia Theater kann Siegfried Lenz nicht mehr beiwohnen. Er starb achtundachtzigjährig am 7. Oktober.