George Steiner war ein Hohepriester der Literatur und verteidigte ihren absoluten Wahrheitsanspruch gegen jede Form der Profanisierung. Mit 90 Jahren ist der große Gelehrte, Philosoph und Essayist gestorben.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wer das Glück hatte, den kleinen Mann mit der großen Brille einmal real zu erleben, wird sich daran erinnern wie an den Auftritt eines großen Virtuosen, was im Falle eines Literaturwissenschaftlers eher selten der Fall sein dürfte. Mit universalhistorischer Beredsamkeit ließ George Steiner die großen Texte der Weltliteratur gegenwärtig werden. Steiner war eine der letzten noch lebenden Meisterdenker des 20. Jahrhunderts. Er prägte den Begriff „Suhrkampkultur“, deren Teil er selbst war. 1929 wurde er als Kind österreichischer Eltern in Paris geboren, wuchs in New York auf. Karl Emil Franzos, der Schriftsteller und Erstherausgeber von Büchners „Woyzeck“, war sein Großonkel. Bekannt wurde er mit Werken wie der bahnbrechenden Poetik der Übersetzung „Nach Babel“.

 

Als Kind hatte er eine unvollständige Homer-Übersetzung. Weil er wissen wollte, wie die „Ilias“ und „Odyssee“ ausgehen, lernte er Altgriechisch. So begann die lebenslange Liaison mit der Literatur. In George Steiner lebte jene jüdische Bildungselite fort, die von den Nationalsozialisten ermordet und vertrieben wurde. Das zufällige Glück, der Vernichtung der europäischen Juden mit knapper Not entkommen zu sein, konnte er nie begreifen.

Wider die Herrschaft des Sekundären

Er lehrte in Harvard, Cambridge und Oxford. In Heidelberg konnte er nur mit Mühe von einer Prügelei mit dem rechtskonservativen Historiker Ernst Nolte zurückgehalten werden. „Im Übermaß seines Leidens liegt der Anspruch des Menschen auf seine Würde. Machtlos und zerbrochen, als blinder Bettler, der aus der Stadt gehetzt wird, erhält er eine neue Größe“, schrieb er in seinem Essay „Der Tod der Tragödie“. Dem in den großen Werken eingesenkten Leidschatz widmete er sein Gelehrtenleben, getrieben von der Furcht, dass mit dem Untergang des Humanismus zuletzt auch das Humane selbst gefährdet sei. 1989 provozierte er seine theorietrunkene Zunft mit dem Manifest „Von realer Gegenwart“, in dem er das unmittelbare Erlebnis der Kunst gegen die Herrschaft des Sekundären verteidigte.

Im Alter von 90 Jahren ist er am Montag in Cambridge gestorben. Die Erfahrung realer Anwesenheit wird mit ihm verbunden bleiben.