Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren an der Stuttgarter Staatsoper Vincenzo Bellinis Melodram „Die Puritaner“ als anspielungsreiches Traumspiel, das viele Einsichten zulässt, lauter Opfer zurücklässt und einen großen Gewinner hat: das Publikum.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Früher Morgen, Bibelstunde, schwarze Gewänder, reine Männersache. Wächserne Gesichter, murmelnde Lippen, viele Bärte. Fundamentalistentagung im Puritanergewand von 1650 in Plymouth (und der Pietismus nicht weit weg). Ab und zu verschieben sich die Wände in diesem streng geschlossenen Raum mit Gotikspitzbogen, Renaissancesäulen und rostiger Brücke unter der Decke fast unmerklich. Sie scheinen zu schwanken. Manchmal flackert das (Neon-)Licht unter der Decke. Draußen steht der englische Bürgerkrieg vor der Tür. Jeder weiß es, alle spüren die dauernde Gefahr. Gefühle zu unterdrücken jedoch ist hier drinnen heilige Pflicht. Die Frauen, ebenfalls züchtig gekleidet, im langen Schürzenkleid und unter strengen Häubchen, scheuern den Boden und die Wände, als strichen sie in einem fort beflissen Sechzehntelnoten einer Etüde in die Bohlen. Alles ist im Takt. Nichts ist im Lot.

 

Aus Pflicht wird Fluch

Zu Beginn des zweiten Aktes in der Stuttgarter Inszenierung von Vincenzo Bellinis letzter Oper „I Puritani“ von 1835 nämlich hat sich der Wahnsinn allem wehrhaften Getue und allen Gebeten zum Trotz längst hinter den Wänden eingenistet. Dabei ist es weniger die Außenwelt (der König enthauptet, die Stuarts, Gegner der Puritaner, zu Schiff nach Frankreich unterwegs), die alle beschäftigt, sondern die Innenwelt, durch die in der letzten Nacht ein dramatischer Riss gegangen ist: Elvira, gegen alle puritanischen Regeln endlich doch als Braut des Kavaliers Arturo und also für eine eigentlich unmögliche Liebesheirat vorgesehen, hat mit ansehen müssen, wie eben dieser Arturo – unter Elviras Brautschleier – die zweite näher definierte Frau auf der Szene (alle anderen sind Namenlose) entführt hat: Enrichetta von Frankreich, als Spionin verdächtigt und schon fast des Todes, tatsächlich Witwe des Königs. Arturo, der in der Stuttgarter Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito immerhin einen (im Libretto nicht vorgesehenen) Erklärungsbrief hinterlässt, handelt gleichzeitig im Affekt und als treuer Soldat, gewissermaßen als Mann-Mann. Schon sein Vater, sagt er, starb für die Stuarts. Aus Pflicht wird Fluch. Zumal der Puritaner Riccardo, dem Elvira ehemals von deren Vater versprochen worden war, wenig puritanisch, aber kurzerhand den Brief verbrennt. Elvira wird nicht erfahren, warum Arturo auf und davon ist. Ein Traum löst sich in Luft auf. Und Elvira ist nicht(s) mehr. „Elvira, was sagst du?“, rufen alle am Ende des ersten Akts. Und Elvira antwortet: Ich, Elvira, nein, nein!“ Sie ist irre. Wie man so sagt.

Weil sie arbeitshypothetisch nie das glauben, was man so sagt (und wie man sonst so inszeniert), setzen Wieler und Morabito genau an diesem Punkt des, wie auch sie nicht von Grund auf leugnen, leicht wirren Librettos an, wohl wissend, dass es für eine Inszenierung der „Puritaner“ normalerweise nur eine Lösung gibt: mehr oder minder geordnet bewegen sich die Sänger fantastischer Belcanto-Partien, isoliert betrachtet, in der Nähe der Rampe. Dramaturgische Schlüssigkeit steht hintan. Wieler und Morabito geben sie - nun mit weitaus mehr beschäftigt als mit Einzelschicksalen wie in den bisherigen Stuttgarter Bellini-Produktionen von „Norma“ und „La Sonnambula“ - vor. Von Anfang an ist dabei klar (und auf faszinierende Art und Weise auch wieder nicht), dass die zwangspuritanisierte Elvira in eine Art von Traumwelt lebt, in der sie sich eingerichtet hat. Noch während der später ein wenig zur generellen Langsamkeit im Lyrischen neigende Dirigent Giuliano Carella in der Introduktion mit den ausgezeichneten Hörnern des Stuttgarter Staatsorchesters eine vielschichtige Morgenröte konstituiert, erscheint eine Frau wie auf der Flucht: Elvira, Fremdkörper bereits unter religiösen Fanatikern, die in einer Art ekstatischer Starre verharren, die Hand mit der Bibel zum Himmel erhoben. Und Elvira hockt sich hin mit einem Heftchen und liest, wie man noch selten jemanden hat lesen sehen. Später ahmt sie die ebenfalls anwesende Gefangene Enrichetta nach, als diese die wenigen, mit dem Rücken zur Wand stehenden Bilder umdreht und zeitgenössische Porträtansichten streichelt, um wenigstens künstlich nachzuvollziehen, was sie früher im Leben wirklich gefühlt hat; Männerhaut und Haare. Nähe. Liebe. „Schönheit und Tapferkeit“, singt der puritanische Chor in einem vorübergehenden Anfall von Begeisterung und akutem Kontrollverlust, als Arturo vier Szenen später die Burg betritt, und Elvira die Parole mit roter Farbe an die Wand gemalt hat: „Beltá e valor“. Am Morgen danach schrubben die Frauen die Steine wie besessen sauber. Nichts bleibt.