Seit 16 Jahren wird in der Traube der Punk gespielt, gehegt und begossen. Nun steckt der Wirt Andreas Ankele zwischen Denkmalschutz und Kapitalinteressen fest. Die Gäste wollen das drohende Aus ihrer Stammkneipe verhindern.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Sindelfingen - Diese Kneipe beweist den zweiten Satz der Thermodynamik: Jede natürliche Ordnung strebt dem Chaos zu. Hinter der Theke ragt eine Flasche Putzmittel hervor, umzingelt von allem, was sich hinter Theken so sammelt. Eine Hundertschaft Kippen hält den Aschenbecher besetzt. Über dem Kühlschrank liegt ein Brett schräg. Ein Lautsprecher hindert es am Kippen. Was praktisch ist, so bleibt zusätzliche Ablagefläche. Unter der Decke hängt das Oberteil eines Flippers, der in seiner Vollständigkeit ein Exponat fürs Technikmuseum wäre. An die Decke haben Gäste sinnvolle oder -lose Botschaften gepinnt. Ehrensache, dass die Telefonnummer auf der Internetseite seit Jahren tot ist.

 

„Ich bin der einzige Fremdkörper hier“, sagt Andreas Ankele. Formal ist er der Wirt der Traube. „Alles, was Du siehst, stammt von den Gästen“, sagt er – einschließlich des Schlagzeugs und der Gitarren auf der Bühne. Wer Lust hat, stöpselt ein, schrammelt und wartet, ob das Publikum klatscht oder pfeift. Etwa einmal monatlich spielen Profis. Oder so ähnlich: „Hier sitzt eigentlich gar nix. Nach dem Motto ,Etwas nicht tun zu können, ist kein Grund, es nicht zu tun’ geben sie ihre Hartz IV-Romantik zum besten.“ So warb die Combo Helmut Cool für ihren April-Auftritt. Im Mai kamen Gum Bleed aus Peking angeflogen. Wer sie hören wollte, zahlte 3,99 Euro Eintritt. An solchen Abenden ist der Laden so gesteckt voll, dass der Schweiß von der Decke tropft. Was keineswegs als Ausdruck des Ekels zu verstehen ist, sondern als Synonym für einen perfekten Samstag.

Die Pinte kauert wie ein Ufo in der Altstadt

Ankele sitzt an der Bar und fügt sich in seine Umgebung ein, als hätte ein Stammgast die Skulptur eines Wirtes geschaffen, um das Bild zu vervollständigen. Es ist kurz nach sieben, niemand hier, in drei, vier Stunden wird es voll. Eine Punkkneipe wollte Ankele eröffnen. Der erste Versuch ging daneben. Die Nachbarn würdigten Live-Punk etwa wie ein Veganer einen Doppelcheeseburger. „Ich hab’ den Laden erfolgreich an die Wand gefahren“, sagt Ankele, „zu viel Ärger“. Dann folgte die Traube, vor 16 Jahren. In einer Art Kultur des gegenseitigen Nichtbeachtens kauert die Pinte seitdem wie ein Ufo mit Antriebschaden in der Sindelfinger Altstadt, umringt von Restaurants, in denen Mittvierziger in gebügelten Marken-T-Shirts zwischen italienischen und portugiesischen Spezialitäten wählen.

Orte wie die Traube sind rar geworden. Orte, an denen aus dem Chaos etwas entsteht, und sei es nur eine Schnapsidee. Kneipen, in denen so ziemlich alles erlaubt, was andernorts verboten ist. Als einziger Paragraf gilt, „dass mir keiner auf den Sack geht“, sagt Ankele. Anders gesagt: Punkkneipen sind selbst in Stuttgart ausgerottet, und Livemusik gilt den meisten Wirten als Zuschussgeschäft. Weshalb „das Einzugsgebiet der Traube bis zum Bodensee geht“, sagt Ankele.

Das Ziel war der Abgang zum 25-Jahr-Jubiläum

So hegte er die Absicht, „die 25 Jahre vollzumachen und mit einem Knall abzutreten“. Was für einen Mann seines Alters bemerkenswert ist. Mit fast 60 Jahren suchen die meisten Wirte nach geruhsamer Gastronomie, die sie sanft in den Ruhestand trägt, „aber wenn ich eine Kneipe hätte, in der die Leute dauernd vom Prokto-, Uro- oder sonst einem Logen reden, würde ich mich umbringen“, sagt Ankele, „ehrlich“.

Allerdings steckt er seit ein paar Wochen in einem Gestrüpp fest, dessen Gewächse im Weltbild eines Punks zwischen Albtraum und Geschlechtskrankheit einzuordnen sind: Kapitalinteressen und Amtsvorschriften. Der Hauseigentümer wollte verkaufen. Der Bau steht unter Denkmalschutz. Die Sindelfinger Wohnstätten übernahmen, um zu sanieren. Seitdem zählen Amtmänner und Sachverständige zu den Stammgästen. Zum Jahreswechsel soll ein Gutachten fertig sein.

Fest steht schon, dass die Traube rausmuss, Stand heute Ende März. „Logisch“, sagt Ankele, „die Sanierung ist dringend, aber wir wollen wieder rein“. Alles, was den Laden ausmacht, in Kisten rauszutragen und wieder reinzutragen, wenn die Bauarbeiter fertig sind, das ist der Plan. Um die Stadt zu überzeugen, dass Alternativen unzulässig wären, haben die Stammgäste einen Verein zur Rettung der Traube gegründet. Aber was heißt Verein – „das ist eher eine Unterschriftensammlung“, sagt Ankele. 426 hat er bisher. Am 18. Oktober sollen sie übergeben werden. Bis dahin dürfte die Protestliste sich noch verlängern, denn das drohende Aus ist sogar gut fürs Geschäft, sagt Ankele: „In letzter Zeit kommen immer mehr Leute, die die Traube sehen wollen, solange es sie noch gibt.“