Berlin hat die Sperrstunde vor ziemlich genau 70 Jahren abgeschafft. Baden-Württemberg hat das bis heute nicht geschafft. Ein Armutszeugnis, das Relikt muss endlich weg, kommentiert Sascha Maier.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Die Landeshauptstadt hinkt Berlin 70 Jahre hinterher. Ein junger Mensch, sagen wir, 20 Jahre alt, konnte in Berlin 1949 durchfeiern, weil am 20. Juni dieses Jahres die Sperrstunde dort aufgehoben wurde. Der junge Mensch ist heute 90. Ein 20-Jähriger in Stuttgart kann das mit dem Durchfeiern heute nur dank des Vehikels der Sperrzeitenverkürzung, und deren Gültigkeit wird seit Anwohnerprotesten im Bereich der Eberhardstraße von der Verwaltung zumindest punktuell infrage gestellt.

 

Dass 2019 in einer Großstadt überhaupt noch über so etwas diskutiert wird, ist ein Armutszeugnis. Dabei geht es nicht um die Abwägung zwischen Anwohnerinteressen und denen des Partyvolks. Es geht um die Geschichte dieses grausigen Relikts, das die Zeit im baden-württembergischen Landesgesetz aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen überdauert hat.

Wurzeln im Spätmittelalter

Die Wurzeln der Sperrstunde führen zurück ins Spätmittelalter. Herzog Siegmund IV. von Österreich Tirol war wohl der erste, der im Jahr 1470 den nächtlichen Weinausschank verbot – aus „feuerpolizeilichen“ Gründen. Nun ist die Gefahr heute, dass Volltrunkene in Stuttgart zu den Zeiten, in denen die Sperrstunde gilt (unter der Woche von 3 bis 6 Uhr, am Wochenende von 5 bis 6 Uhr), Kneipen und Clubs ohne vorhandenes offenes Feuer abfackeln, doch recht überschaubar.

Das hat man 1949 in Berlin begriffen. Die Nazis waren besiegt, der Lokalbetreiber und spätere CDU-Politiker Heinz Zellermayer überzeugte den Kommandanten der amerikanischen Besatzer, Frank Howley, in einer durchzechten Nacht, dass das mit der Sperrstunde zu einem Nachkriegsdeutschland nicht passe. So erzählt es zumindest die Legende, auf die man bis heute stolz ist in Berlin.

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In Baden-Württemberg indes haftet der Sperrstunde auch 70 Jahre später etwas von einer heiligen Kuh an. Einen ernst zu nehmenden Vorstoß, sie abzuschaffen, hat es in der Politik nie gegeben. Als würde der selbe, mächtige Schutzgeist seine Hand über sie halten, der wohl auch bei der schwäbischen Kehrwoche am Werke ist. Die wurde zwar juristisch seit 1988 etwas aufgeweicht, klebt aber am piefigen Schwaben-Image, so lange Kehrwochen-Schilder Hausflure zieren.

Schrappiges, denunziantisches Image

Es ist höchste Zeit, diesem schrappigen, denunziantischen Image zu entwachsen. Denn zumindest die Landeshauptstadt ist viel besser als ihr Ruf. Zeit, nach 70 Jahren die Zukunft auszurufen mit einem Ländle, das ganz ohne Sperrstunden auskommt!

2021 ist wieder Landtagswahl in Baden-Württemberg. Das wäre vielleicht eine Gelegenheit, bei den jungen, sagen wir, 20-jährigen Wählern zu punkten und das Sperrstunden-Gespenst endlich zu verbannen. Schließlich hat sich bei der Kommunal- und der Europawahl gezeigt, dass die Politik die Interessen der jüngeren Generationen nicht unterschätzen sollte.