Im Nordeck, einer Pinte an der Haltestelle Mittnachtstraße, wird gezockt. Grüß Gott, die Herren, besser: Iyi geceler, denn die Nordeck-Sprache ist Türkisch.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Stuttgart/Nord - Diese Geschichte stakst von ihrem Ende zurück, einem Film gleich, den der Vorführer rückwärts laufen lässt. Nicht, weil ihr Ende das Beste ist, aber das Skurrilste. Außerdem ziert ein Wandgemälde jeden Schluss, dazu später mehr. Begonnen also von hinten, weist ein Schild rechts den Weg ins Raucherzimmer, eins links den ins Nichtraucherzimmer einer Pinte, deren Name verpflichtet, sie zur Endstation einer Tour durch ein paar der Kneipen zu wählen, die das letzte ihrer neun Leben in schmiegsamer Nachbarschaft an der Haltestelle Mittnachtstraße fristen, mitten im Nordbahnhofviertel. Die Pinte heißt Nordeck.

 

Im Nichtraucherzimmer scheint es, als hätte selbst das Licht entschieden, sich nach längerem Warten auf den Wirt aus diesem Grab verwester Geselligkeit zu verabschieden. Nur durch die Mattglasscheiben zum Raucherzimmer schimmert es bläulich auf den Tischen. Das mit dem Wirt war ein Irrtum. Er kommt von drüben, wirkt allerdings, als hätte er eher ein Rudel Giraffen aus der Nachbargalaxie erwartet als Gäste. Doch, es ist offen, sagt er. Nebenan sind Neonröhren die Lichtquellen der Wahl, als gelte es, schon mal die S 21-Baustelle zu beleuchten, samt Tunnel.

Die Nordeck-Sprache ist Türkisch

Bis auf einen Tisch sind alle besetzt. In der Ecke wird gezockt. Grüß Gott, die Herren, besser: Iyi geceler, denn die Nordeck-Sprache ist Türkisch. Damen gilt es nicht zu begrüßen. Das Schweigen samt der Versammlung der Blicke lassen erstens ahnen, dass hier seit drei Generationen niemand mehr Gast war, der nicht mit Handschlag begrüßt wurde, zweitens, dass die letzte Frau im Saal gesichtet wurde, als im Fernseher etwas anderes lief als Fußball, was aktuell nicht der Fall ist. „Ein Bier, ein Tee, bitte“, man passt sich ja an. Tee ist das Getränk der allgemeinen Wahl. Alkohol trinkt niemand. Nach einem ganzen Tee und einem halben Bier ist das Schweigen von seiner Beharrlichkeit so erschöpft, dass es einem Murmeln gelingt, es beiseite zu drängen. Zahlen bitte und Allahaismarladik – Auf Wiedersehen.

„Aber hallo“ steht auf der Leuchtreklame der nächsten Kneipe und daneben in ellenhohen Buchstaben: Raucherclub. Verwirrenderweise weist die Getränkekarte das „Aber hallo“ als „Stellwerk 9“ aus. Interessanter ist die Rückseite, auf der gepriesen wird: Hartz-IV-Preise – wir helfen mit. Jedes sechste Getränk kostenlos. Aber hallo. Die Jack-Daniels-Reklame an der Theke legt nahe, dass Tee eher selten bestellt wird. Ein Wirt, der zur Bitte, für neue Gäste einen Barhocker zu räumen, ein freundliches „Malaga“ intoniert, ist mit Jassu zu begrüßen, Hallo auf Griechisch. Zur Übersetzung von Malaga soll des Jugendschutzes wegen reichen, dass nicht die Stadt in Spanien gemeint ist. Die Kneipe ist gleißend renoviert und wegen Überfüllung gewiss so selten geschlossen, wie der Wirt im Nordeck eine Runde Schnaps schmeißt. Dafür werden Frauen nicht beäugt wie eine Invasion von Außerirdischen.

Zwei freundliche Damen in pink

Im „Memories“ kellnern gar zwei freundliche Damen, beide in pink. Die allgemeine Aufmerksamkeit gehört trotzdem den Spielautomaten, von denen einer gerade mit frischen Münzen befüllt wird. Abgesehen von den Daddelcomputern lässt es sich hier gemütlich vergangener Zeiten gedenken. Die Pinte schämt sich ihrer Falten und Narben nicht, die in Jahrzehnten gereift sind, wie es in der Ausbildungsverordnung für Kneipen steht, die Stammkneipe werden wollen. Dass an diesem Samstag die Jack-Daniels Party ausgerufen ist, hat niemanden gelockt. Auch hier überwiegt an der Theke das Türkische und auf den Tischen das Anti-Alkoholische. Die Raucher und die Nichtraucher trennt eine Glaswand. Nun ja, meistens. Und da ist es: das Wandgemälde. Eine von den Mühen des Tages sichtlich ermattete Sonne versinkt zwischen Palmen im Meer. Gute Nacht.