Eisdielen sind Saisonbetriebe. Über die Winterzeit fahren Pietro Olivier und seine 45-jährige Frau Nicla, seit sie denken können, zurück in ihre Heimatstadt Belluno in Venetien. Ihre Stammkunden verabschieden sich dann mit Handschlag von ihnen und manche, die in die Jahre gekommen sind, sogar mit einem Geschenk. Die Eisdiele ist für sie so etwas wie ein Stück Heimat. Am Ende einer Saison kennt Pietro Olivier wieder ein paar Lebensgeschichten mehr. Das Vertrauen ist über die Jahre gewachsen.
Aus Belluno und den umliegenden Tälern kommen viele der italienischen Eisdielenbetreiber in Deutschland. Dort hat ihr Handwerk seinen Ursprung. Im Oktober oder spätestens im November kehren sie aus ganz Deutschland wie die Schwalben zurück in den Süden. Und im Frühjahr setzt der Massenexodus in die Gegenrichtung dann wieder ein. Die schulpflichtigen Kinder bleiben daheim bei den Alten. So war es, und so ist es noch immer.
Das alljährliche Ritual
Manche fahren bis hoch in den Norden. Die Oliviers fahren nun schon das 59. Jahr nach Stuttgart. Dass es die baden-württembergische Landeshauptstadt wurde, war ein Zufall, sagt Angelo Olivier, Pietros Vater. Dessen Vater wiederum nahm 1959 das Angebot an, im Stadtteil Zuffenhausen eine Eisdiele zu eröffnen, damals noch als Mieter. Unterhalb der evangelischen Kirche, die auf einer Anhöhe steht, sollte eine moderne Ladenzeile entstehen. Der Großvater brach seien Zelte in Mailand ab und brachte seine Frau, seinen Bruder und seinen Sohn Angelo mit. Alle packten mit an.
Von italienischem Eis und seinem Siegeszug nach Deutschland zu erzählen heißt auch eine Migrationsgeschichte aufzublättern, die zu Beginn des 20. Jahrhundert begonnen hat und nur von den beiden Weltkriegen unterbrochen wurde. Anfangs der sechziger Jahre nannten die ersten Kunden die Eisdiele wegen ihrer Architektur „Spaghettibunker“. „Ich war sehr aufgeregt“, sagt Angelo Olivier via Skype von Italien aus. Er war damals 22 Jahre alt war. Die Kugel Eis kostete anfangs zehn Pfennig.
Die Töchter der Oliviers bleiben bis zu den Ferien bei den Großeltern in Belluno. Auch das ist wie immer. Im Sommer wird ihr Großvater dann mit seinen 81 Jahren frühmorgens den Platz vor dem Stuttgarter Laden fegen und nach dem Rechten schauen. Die Verbundenheit zum Geschäft bleibt ein Leben lang. Zum alljährlichen Ritual gehört auch, dass sein Sohn immer am Valentinstag den Abschiedsgruß von der Tür, das Papier von der Glasfront reißt und den rot-weißen Neonschriftzug „Olivier“ über dem Eingang wieder anschaltet. Allen im Ort ist dann klar: Die Winterpause ist vorbei. Es geht wieder los. Und es geht weiter, was Pietro Olivier als Liebe zu einer Tradition, einem Handwerk und irgendwie wohl auch zu seiner Familie und deren Geschichte beschreibt: das Eismachen. Er nennt es die „Magie, wie aus einer flüssigen Mischung eine löffelbare Masse“ wird.
Eine schrumpfende Branche
Dass es weitergeht, ist nicht mehr selbstverständlich. Die aktuellste Statistik des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga sagt, dass es 2009 noch 6340 Eiscafés in Deutschland gab, im Jahr 2015 ist die Zahl auf 5591 gesunken. Die Statistik listet nicht auf, ob sich alle Eiscafés in Besitz italienischer Familien befinden. Aber auch Annalisa Carnio vom Verband der italienischen Eishersteller Uniteis sagt: Die Branche der familienbetriebenen italienischen Eisdielen ist im Umbruch. Ein Drittel der potenziellen zukünftigen Eisdielenbetreiber übernimmt den Betrieb – dann meist in der vierten Generation – nicht, schätzt sie. Anders als noch ihre Eltern zögern sie, ob sie alles ihrem Leben einem 16- bis 18-Stunden-Tag, sieben Tage die Woche, für mindestens acht Monate im Jahr unterordnen wollen.
Müssen die Deutschen Abschied nehmen von einer lieb gewonnenen Institution? Eisdielen, die im Franchiseverfahren betrieben werden, treten zunehmend als Konkurrenten der Familienbetriebe auf. Die Zahl der türkischen Eisdielenbetreiber nimmt zu. Das Eisbusiness ist für manche nur ein vorübergehendes Start-up bis zur nächsten Geschäftsidee. Pietro Olivier aber ist Langstreckenläufer.
Doch auch bei ihm wird sich in diesem Jahr viel ändern. „Alle zehn Jahre muss man sich neu erfinden“, sagt er. Das Resultat seiner Überlegungen: Er wird seinen Betrieb schrumpfen – kleinerer Gästebereich, mehr Straßenverkauf. Und weniger Personal: nur noch seine Frau und er.
Diese Jahr wird die Kugel 1,20 Euro kosten
Pietro Olivier ist überzeugt, dass im Denken in kleineren Dimensionen die Weichenstellung für die Zukunft liegt. Seinen Töchtern will er nicht vorschreiben, seinen Weg einzuschlagen. Er will sich wieder aufs Wesentliche konzentrieren: das Eis und seine Qualität. Die Karte wird schrumpfen, den Spaghettibecher und die Sahneeiscreme – in Softeismanier in einen Becher gespritzt und so mächtig wie zwei Mittagessen und eine Erfindung des Papas – wird es aber weiterhin geben. Espresso, Cappuccino und Latte wird es verstärkt zum Mitnehmen geben.
Auf der Gelatissimo-Messe, dem Treffen der Branche in Stuttgart, ist das Ehepaar Olivier deshalb auf der Suche nach den passenden Hörnchen und Bechern. „Bedenken Sie“, sagt Oliver Stirken, der Anbieter am Messestand, „dass die Hälfte der Menschen den Becher nicht in einen Mülleimer wirft, wenn darauf steht, dass er kompostierbar ist.“ Stirken, dessen Vater aus einer Waffelfabrik im Rheinland einen Zulieferbetrieb für Eisdielen gemacht hat, weiß es von einigen Kollegen aus der Branche, die wie Pietro Olivier verstärkt auf Selbstbedienung umgestellt haben. Geschadet habe das keinem, sagt er. Das Verbraucherverhalten habe sich eben geändert. „Eis ist für viele kein Genussmittel mehr“, sagt er. Aber mit einem Preis von einem Euro pro Kugel lassen sich die Kosten für die Rohstoffe, die Löhne aber kaum noch finanzieren, sagt Olivier. Er werde dieses Jahr deshalb 1,20 Euro für die Kugel verlangen.
Sein Schulfreund Fabiano Fontanello, der in Osnabrück zwei Eisdielen betreibt, ist ebenfalls nach Stuttgart auf die Messe gekommen. Er versteht die Entscheidung seines Freundes. Er selbst gönnt sich nun einen freien Tag pro Woche. Es sei schwer, Personal zu finden, das von derselben Liebe zum Eis beseelt sei wie die Eismacher, sagt er . „Wir sind Handwerker und keine Händler“, sagt er. Geschmack, das sei eine Mischung aus Emotionen, guten Zutaten und Erfahrung.
Der diesjährige Marathon kann beginnen
„Ich würde alles genauso wieder tun“, sagt Pietro Olivier und ergänzt, „wenn ich genau die gleichen Dinge wieder erleben dürfte.“ Er denkt lange nach, bevor er Bekenntnisse wie dieses preisgibt. Er steht im Keller seiner Eisdiele zwischen riesigen Vorratsbehältern mit Zucker, Sahne und Milch, mannshohen Gefrierschränken, zwei Maschinen zum Pasteurisieren der weißen Eisgrundmasse und einer Eismaschine. Sie kühlt und schlägt die Masse zum Endprodukt Eis. Die tiefgefrorene Fruchtpüreemasse – von der gelblich-weißen Zitrone bis zur violettfarbenen Waldbeermischung – hat er bereits in Eimern mit Wasser und Zucker angesetzt. Hundert Kilogramm Milchspeiseeis und sechzig Kilogramm Fruchteis wird er am Ende des nächsten Tages in Edelstahlbüchsen gefüllt in den Gefrierschränken einlagern. Von jetzt an wird er jeden Morgen bis Oktober in der Küche verschwinden, um Eis zu machen. Das ist Chefsache.
„Eis braucht Zeit zum Reifen“, sagt er. Wie ein guter Wein. Als kleiner Junge hat er hier auf leeren Zitronenkisten gesessen und dem Vater bei der Arbeit zugeschaut, erzählt er und wird ein wenig sentimental. Die analoge Waage nennt er die „Opa-Waage“, weil sie noch aus der Anfangszeit der Eisdiele stammt. Wenn er über die Leidenschaft spricht, die er zum Beruf gemacht hat, zählt nur noch das Eis und nicht die Dinge, die ihn dazu veranlasst haben, seinen Betrieb umzuorganisieren. Zum Beispiel die unterschiedlichen Mehrwehrsteuersätze für das Eis zum Mitnehmen und das Eis, das die Gäste in seinem Café verspeisen.
Hier unten jongliert er in traumwandlerischer Sicherheit mit Spachtel und Quirl. In einem Schnellhefter hat er die Eisrezepturen notiert. Er ist das Logbuch der Eisdiele. Immer wieder hat er sie handschriftlich abgeändert. Alles ist dokumentiert. Aber tief im Inneren weiß Pietro Olivier, dass sein Eis mehr ist als das Abarbeiten eines Rezepts. Es speist sich auch aus der geballten Erfahrung einer Eismacherfamilie. Es geht wieder los. Der diesjährige Marathon kann beginnen.
Hier lesen Sie weitere StZ-Plus-Texte!