Die ARD zeigt mit der Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ zeitgemäßes historisches Erzählfernsehen. Die Macher von „Unsere Mütter, unsere Väter“ beschäftigen sich diesmal mit dem KZ Buchenwald, einem Buben und dessen Befreiung.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Es war das meistgelesene Buch in der DDR, Pflichtlektüre in den Schulen und Baustein der sozialistischen Mythenbildung: „Nackt unter Wölfen“. Bruno Apitz erzählt in dem Roman, wie kommunistische Häftlinge im April 1945 in Buchenwald einen Dreijährigen verstecken und vor dem Tod retten; gleichzeitig gelingt ihnen die Befreiung des Konzentrationslagers. Frank Beyer verfilmte die Heldensaga für die Defa – ein trotz propagandistischer Verbrämung intensives Kammerspiel mit einem monumentalen Finale: Tausende Häftlinge stürmen auf den Appellplatz, um die Freiheit zu feiern.

 

Die Historiker wissen: es gab nicht nur einen Dreijährigen, sondern 900 Kinder und Jugendliche in Buchenwald. Die Kommunisten hatten zentrale Verwaltungspositionen inne, waren sogenannte Funktionshäftlinge, „Kapos“, die etwa im Vergleich zu den jüdischen Gefangenen privilegiert waren. Die Genossen sicherten wohl das Überleben der Kinder, aber auch ihr eigenes: Unter den 56 000 Menschen, die in dem Arbeitslager umkamen, waren nur 72 deutsche Kommunisten. Die Selbstbefreiung durch die Kommunisten ist ein Mythos: Das Widerstandsnetzwerk konnte zwar Waffen ins Lager schmuggeln, es kam am 11. April 1945 sogar zu Schießereien, allerdings erst, nachdem das Gros der SS-Leute getürmt war, und in dem Wissen, dass die Ankunft der Amerikaner sicher war.

Im Jahr 2012 erschien dann eine Neuausgabe des Romans, die auf die neueren historischen Erkenntnisse verweist – nun, zehn Tage vor dem siebzigsten Jahrestag der Befreiung von Buchenwald, zieht das Fernsehen mit der vom MDR verantworteten Neuverfilmung von Philipp Kadelbach (Regie) und Stefan Kolditz (Drehbuch) nach – und Nico Hofmann, rastloser TV-Aufbereiter der jüngeren deutschen Geschichte, kann mit seiner Produktionsfirma Ufa Fiction eine weitere Lücke schließen.

Zeitgemäßes Erzählfernsehen

„Die Geschichte muss heute noch einmal erzählt werden, weil sie ganz zentrale Fragen stellt, die in unsere Gegenwart hineinreichen“, sagt Kolditz, der den Stoff entsprechend dem historischen Forschungsstand korrigiert hat. Im Zusammenspiel mit Kadelbachs schonungslos-realistischer Inszenierung gelingt dem Duo, das auch den erfolgreichen ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unser Väter“ verantwortete, zeitgemäßes historisches Erzählfernsehen: individualisiert, emotional, dicht und hochdramatisch.

„Apitz stimmt nicht nur das Hohelied der Kommunisten an, sondern erzählt etwas viel Grundsätzlicheres: dass Menschlichkeit erst möglich wird, wenn die Ideologie überwunden wird. Denn das Kind wird ja nicht mit der Unterstützung der Kommunistischen Partei gerettet, sondern gegen ihren Befehl“, erläutert Stefan Kolditz, warum für ihn der Roman bis heute hochaktuell ist. Der ARD-Film stellt, anders als die literarische Vorlage, den politischen Häftling Hans Pippig (Florian Stetter) in den Mittelpunkt des Geschehens. Der moralisch aufrechte und sensible Zimmermann nimmt sich des in einem Koffer ins Lager geschmuggelten Jungen an. Doch Bochow (Thorsten Merten), der Kopf des „Internationalen Lagerkomitees“, will das Kind mit dem nächsten Todestransport nach Bergen-Belsen schicken.

Auch der Kapo André Höfel (Peter Schneider), der für die SS die Kleiderkammer leitet und dessen Figur an den Stuttgarter Willi Bleicher angelehnt ist (siehe Seite 28), befürchtet, durch das Kind könnte die Widerstandsgruppe und deren konspirative Pläne von der SS entdeckt werden. Erst nachdem Pippig sich der Anweisung seines Vorgesetzten Höfel widersetzt – „wenn wir den Jungen opfern, opfern wir alles“ –, erkennt auch Höfel, dass es zum Schutz des Kindes keine Alternative geben kann. Er gibt seine Überzeugung und seine Würde auch nicht preis, als er gefoltert wird. Gerade die Szenen, in denen der eiskalte SS-Untersturmführer Reineboth (Sabin Tambrea) seine Opfer dem sadistischen Foltermeister Mandrill ausliefert, sind schwer erträglich.

Ein Wettlauf mit der Zeit

Geschickt eingeflochtene historische Aufnahmen von den immer näher rückenden Amerikanern dramatisieren das qualvolle Standhalten gegen die Nazibarbarei zusätzlich – es ist ein Wettlauf mit der Zeit.  Beklemmend aber auch Kadelbachs drastische Schilderung des Lageralltags: Das dreijährige jüdische Kind wird im „Kleinen Lager“, der Quarantänestation, versteckt, umgeben von zusammengepferchten Elendsgestalten, die von Tod und Krankheit gezeichnet sind. Für Stefan Kolditz ist das eine der wesentlichen Korrekturen gegenüber der Vorlage, in der die jüdischen Häftlinge und das „Kleine Lager“ quasi keine Rolle spielten.

So wird in dem Kind, das dem Horror stumm, mit großen, fragenden Augen begegnet, das Unbegreifliche greifbar – es gerät zum Symbol der Menschlichkeit und Hoffnung. Nach der Befreiung lässt Kadelbach ganz anders als Beyer die Häftlinge zögerlich auf den Appellplatz treten, viel zu entkräftet, um zu jubeln. So sieht kein triumphaler Sieg einer Ideologie aus, sondern das Überleben des reinen Menschseins. Der Film zeigt aber auch, wie die Nazischergen im Angesicht der Niederlage entweder die hässliche Fratze des Fanatismus beibehalten und die verbleibenden 21 000 Häftlinge in letzter Minute umbringen wollen oder aber unerkannt entkommen. Tatsächlich sind viele der in Buchenwald verantwortlichen SS-Angehörigen nach dem Krieg nicht angeklagt oder schon bald begnadigt worden.

Somit regt der Film zur kritischen Aufarbeitung der Geschichte an: „Wir brauchen einen Dialog der unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Ost und West; der hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht stattgefunden“, sagt Kolditz – und hofft, dass der Film zu einem „ gemeinsamen kollektiven Gedächtnis“ beitragen kann.