Im Streit um die Ansiedlung eines Aldi-Markts in Untertürkheim soll die Wirtschaftsförderin Ines Aufrecht den Bezirksbeiräten Informationen, die für das Projekt nachteilig sind, vorenthalten haben. Der Gemeinderat wird letztlich entscheiden.

Stuttgart - Der Stuttgarter Gemeinderat hat in den Haushaltsberatungen auf Antrag von CDU und Grünen für die nächsten beiden Jahre 100 000 Euro Planungsmittel genehmigt, um in einem ersten Schritt für fünf Stadtteile, in denen der Einzelhandel weitgehend am Boden liegt, Lösungen zu erarbeiten. Das in weiten Teilen innenstadtorientierte Gremium hat mittlerweile erkannt, jahrelang nicht nur Gebäude, Straßen oder Friedhöfe dem Zerfall überlassen zu haben. Man hat auch einräumen müssen, tatenlos zugesehen zu haben, wie immer mehr Kaufkraft aus den äußeren Stadtbezirken abfloss – in Untertürkheim bisher 50 Prozent.

 

Deshalb soll die Abteilung Wirtschaftsförderung nun auch für Untertürkheim (neben Cannstatt, Feuerbach, Vaihingen und Weilimdorf) Feuerwehr spielen und „ortsspezifische Handlungskonzepte“ entwickeln. Dafür muss sie mit dem örtlichen Einzelhandel und den politischen Vertretern zusammenarbeiten. Da passt es überhaupt nicht ins Bild, dass sich OB Fritz Kuhn (Grüne) aktuell mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen seine Wirtschaftsförderin Ines Aufrecht beschäftigen muss, in der es konkret um dieses Thema geht.

In Obertürkheim gibt es keinen anderen Supermarkt

Ihr wird vorgeworfen, in unangemessener Form eine Aldi-Ansiedlung auf dem ehemaligen Untertürkheimer Postareal in der Augsburger Straße zu forcieren und dabei die Bürgervertreter über wesentliche Fakten im Unklaren gelassen zu haben. Der Obertürkheimer Bezirksbeirat Christoph Hofrichter (SÖS-Linke-Plus) steht gegenwärtig nicht allein mit seiner Meinung, Ines Aufrecht habe den interessierten Bürgern wichtige Informationen vorenthalten, indem sie in diversen Bezirksbeiratssitzungen ein von ihr selbst in Auftrag gegebenes Gutachten als geheime Verschlusssache behandelt habe. Das sei keine gute Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Die Expertise zur Marktverträglichkeit, die der StZ vorliegt, geht zwar davon aus, dass 800 Quadratmeter Aldi-Fläche den Einkaufsplatz Untertürkheim stärkten. Sie macht aber ebenso deutlich, dass dies mit ziemlicher Sicherheit das Aus für die CAP-Märkte in Unter- und Obertürkheim bedeuten würde. Besonders für Obertürkheim wäre eine Schließung fatal, ist doch der von der Caritas-Tochter Markt- und Service eGmbH betriebene Laden der einzige weit und breit. Die Hälfte der Belegschaft in diesem Integrationsunternehmen ist behindert. Der Laden bietet auch einen Lieferservice für mobilitätseingeschränkte Menschen an und hat mit seinen Angeboten für Mittagessen sowie Kaffee und Kuchen im Foyer längst die Funktion eines Stadtteilzentrums übernommen. Bis zur Öffnung 2004 hatte es im Stadtteil überhaupt keinen Vollversorger mehr gegeben.

30 Prozent weniger Umsatz kann nicht kompensiert werden

„Der aufgezeigte Zielkonflikt kann nicht gelöst werden“, heißt es im Gutachten der UBH Unternehmensberatung Handel GmbH. Wenn Aldi öffnen würde, schließen die CAP-Märkte mit großer Sicherheit, da 30 Prozent weniger Umsatz nicht kompensiert werden könnten, so Geschäftsführer Gerhard Sohst. 40 Mitarbeiter stünden auf der Straße. Wegen der geringen Margen droht laut Einzelhandelserlass des Landes bereits eine Schließung bei einem Minus von zehn Prozent.

Die Stadt will sich gerade nicht zu den Vorwürfen gegen Ines Aufrecht äußern. Sie behauptet, die Wirtschaftsförderin habe „auf eine transparente, nachvollziehbare, und komprimierte Berichterstattung in den Gremien Wert gelegt.“ Sie habe die möglichen Konsequenzen beschrieben und darauf hingewiesen, dass in anderen Stadtteilen CAP-Märkte Discounter-Konkurrenz aushielten. Das ist auch in Obertürkheim so; nur ist dort der Aldi am Ortsrand platziert. In Obertürkheim ist gar nicht gut angekommen, dass Aufrechts neue Mitarbeiterin Mareike Merx Hinweise auf die soziale Problemstellung mit den Gesetzen des freien Markts auszukontern versuchte.

Gemeinderat wird in der Sache mitsprechen

Tatsächlich könne man Aldi nicht verbieten, das alte Postgebäude zu kaufen, sagt Heinz Sonntag vom Amt für Stadtplanung. Aus fachlicher Sicht sei die integrierte Lage geradezu ideal. Und es gebe – siehe Kaufkraftabfluss – auch einen Bedarf. Der Discounter wolle im Gebäude weitere Ladenflächen, etwa für die Post, bereit stellen. In der Rathausspitze herrscht zudem die Meinung vor, CAP-Märkte hätte eine Bestimmung als Lückenbüßer. Deren Überlebenschancen würden steigen, sofern sie ihr Warenangebot modifizierten. Geschäftsführer Gerhard Sohst überzeugt das nicht. Er erwähnt, dass die Caritas sich einst Schutz vor unliebsamer Konkurrenz ausbedungen habe. Und er weist darauf hin, dass 95 Prozent der Waren von Edeka bezogen werden müssen. Dadurch verbiete sich ein Systemwechsel auf die Schnelle.

Dass der Einsatz für den lokalen Handel mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften könnte, müsse natürlich öffentlich diskutiert werden, meint Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne). Dazu werde es in den Bezirksbeiräten und im Gemeinderat Gelegenheit geben, auch eine Bürgerbeteiligung kündigt Heinz Sonntag an. Dies sieht die für das Aldi-Vorhaben nötige Änderung des Bebauungsplans vor. Eine weitere Voraussetzung ist der Erwerb eines benachbarten städtischen Grundstücks. Deshalb entscheidet letztlich über die Zukunft des Einzelhandels der Gemeinderat. Nichts anderes wollte der Schauspieler, Regisseur und S-21-Gegner Hofrichter mit seiner Beschwerde erreichen: „Eine Transparenz von Planungen und eine Verbesserung der politischen Kultur in Stuttgart.“

Hintergrund zu den Cap-Märkten:

Es gibt im Bundesgebiet mehr als 100 CAP-Märkte mit rund 1400 Mitarbeitern. Mehr als die Hälfte hat eine Behinderung. Zweimal pro Woche liefern die Läden in Ober- und Untertürkheim Waren an mobilitätseingeschränkte Kunden in den Neckarvororten. Franchisenehmer ist hier die Caritas-Tochter Markt- und Handels eGmbH. Sie ist als Integrationsunternehmen steuerlich privilegiert.

Die Marktbetrachtung geht von einem Jahresumsatz des neuen Aldi-Markts von bis zu acht Millionen Euro aus. Dem großen Kaufland an der Ortsgrenze zu Obertürkheim drohen dann zehn Prozent Umsatzverlust, das kann existenzgefährdend sein. Dem CAP im Storchenmarkt drohen bis zu 30 Prozent.