Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft beendet das Jahr 2017 ungeschlagen. Gründe, sich zurückzulehnen, gibt es aber nicht – die WM im nächsten Jahr wirft ihre Schatten voraus. Bundestrainer Joachim Löw hat die Qual der Wahl.

Sport: Marco Seliger (sem)

Köln - Wer schon immer mal einen Eindruck davon bekommen wollte, wie tiefenentspannt Joachim Löw nach elfeinhalb Jahren als Bundestrainer ist, der war um kurz vor Mitternacht am Dienstagabend in den Katakomben des Kölner Stadions richtig. Löw saß im Scheinwerferlicht auf dem Podium, das Licht strahlte – so wie Löw strahlte. Von innen heraus. Die totale Gelassenheit und die innere Ruhe des Bundestrainers waren fast zu greifen nach dem 2:2 im letzten Länderspiel des Jahres gegen Frankreich. Was er den Anwesenden im Pressesaal zum Jahresabschluss wünsche? Bloß keine Nervosität, sagte der Coach.

 

„Mich macht nichts mehr nervös“

Etwas mehr als ein halbes Jahr noch, dann steigt die WM in Russland (14. Juni bis 15. Juli) – und der Bundestrainer sagte vor seinem Abschiedsgruß allen, die auch nur im Ansatz so etwas wie Anspannung spüren, wenn es um sein Team und die Aussicht auf die WM geht, Sätze wie diesen: „Mich macht nichts mehr nervös – nicht wenn Unruhe aufkommt, nicht wenn wir Verletzte haben oder die Testergebnisse nicht stimmen.“ Löw ergänzte, dass „wir uns eine wahnsinnig gute Basis erarbeitet haben. Wir wissen, was wir können. Ich habe keine schlaflosen Nächte.“ Und als es um die große Baustelle in der deutschen Mannschaft ging, die Außenverteidigerpositionen, meinte Löw mit dem Selbstbewusstsein des Weltmeisters: „Ich mache mir natürlich Gedanken, aber keine Sorgen.“

Nein, natürlich nicht!

Es gibt noch einige offene Planstellen

Dennoch: Wenn man so will, sind gerade die linken und die rechten Verteidiger so etwas wie der gelebte Widerspruch für all das, was der tiefenentspannte Löw so von sich gab nach dem 21. Länderspiel in Folge ohne Niederlage. Wer ihm so zuhörte, hätte ja fast meinen können, dass auf dem Weg nach Russland schon alles klar sei und alle Rädchen ineinandergreifen. Doch nicht nur links und rechts hinten, wo Löw weiter nach einer Alternative für die gesetzten Außenverteidiger Joshua Kimmich und Jonas Hector sucht, gibt es nach dem Länderspieljahr noch einige offen Planstellen. Und wer weiß, vielleicht rauben die Personalfragen Löw doch irgendwann den Schlaf. Vielleicht wälzt er sich einige Male hin und her, bis er weiß, wen er tatsächlich mit nach Russland nimmt.

Vielleicht denkt Löw dann auch an das Länderspieljahr 2017 zurück – das einige Sieger und Verlierer hervorgebracht hat und das sicher mitentscheidend sein wird für Löws Kadernominierung im Mai nächsten Jahres. Bei den Gewinnern von 2017 gestaltet sich die Sache recht einfach: Es sind die Jungs, die beim Confed-Cup-Sieg im Sommer in Russland und in den Spielen danach nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht haben oder wie im Falle des Rechtsverteidigers Joshua Kimmich ihren Stellenwert mit starken Leistungen untermauert haben.

Ter Stegen hat sich als Nummer zwei im Tor etabliert

Torhüter Marc-André ter Stegen hat sich längst als Nummer zwei hinter dem derzeit noch verletzten Manuel Neuer etabliert, Innenverteidiger Niklas Süle, die Mittelfeldspieler Leon Goretzka und Sebastian Rudy haben sich nach konstant starken Leistungen sowohl beim Confed-Cup-Turnier als auch auf Vereinsebene zu ernsthaften Kandidaten für die Startelf bei der WM entwickelt. Der Stürmer Timo Werner ist nach Gala-Auftritten bei RB Leipzig und beim Confed-Cup sogar schon der Stürmer Nummer eins. Die Offensivkräfte Lars Stindl und Sandro Wagner können sich große Hoffnungen auf eine WM-Nominierung machen. Ebenso wie Leroy Sané von Manchester City, der den Confed-Cup zwar verpasste, dank starker Leistungen beim englischen Spitzenclub aber auch gute Chancen auf eine Berufung hat.

Als Beleg für die Entwicklung in der Offensive steht die Torschützenliste der Nationalelf aus dem Jahr 2017. Es führt Timo Werner (7 Tore) vor Leon Goretzka (6), Sandro Wagner (5) und Lars Stindl (4). Nicht auf den vorderen Plätzen sind Mario Gomez und André Schürrle gelandet. Der Stoßstürmer Gomez und der Weltmeister Schürrle kämpfen nach einigen Verletzungsproblemen (Gomez) und Formkrisen (Schürrle) um den Anschluss. Sie gehören zu den Verlierern des Jahres und haben nun knapp sechs Monate Zeit, das Blatt zu wenden. Dasselbe gilt für die Abwehrspieler Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi. Die beiden Weltmeister sind bei Löw derzeit außen vor, weil ihnen Niklas Süle und Antonio Rüdiger den Rang abgelaufen haben – und weil Mats Hummels, Jérôme Boateng und Joshua Kimmich in der Defensive ohnehin gesetzt sind.

Der Sonderfall Marco Reus

Ein Sonderfall unter all jenen, für die das Länderspieljahr einen Rückschritt bedeutete, ist Marco Reus. Der Offensivmann von Borussia Dortmund zog sich im Pokalfinale im Mai einen Kreuzbandriss zu und kämpft seitdem um sein Comeback. Sollte Reus rechtzeitig wieder in Form kommen, dürfte der Pechvogel nach zwei Turnieren, die er schon verletzungsbedingt verpasste, ein ernsthafter Kandidat für die WM sein.

Bis dahin hat Löw Zeit, seine Jungs ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Was in Russland generell gefragt sein wird, ist dem Weltmeistertrainer klar: „Man muss sich vor dem Turnier auch psychische Robustheit aneignen – jede Mannschaft will uns in die Knie zwingen“, sagt Löw, „da stoßen wir auf wahnsinnige Widerstände, und darauf müssen wir vorbereitet sein.“ Löw spricht vom „schwersten Turnier überhaupt“. Frankreich, Brasilien, Spanien, Argentinien und England sind die Favoriten – zusammen mit jener Elf, die 2018 den WM-Titel verteidigen will.