So viel Pech wie Marc-André ter Stegen kann man gar nicht haben. Jahrelang wartet er auf den Platz im deutschen Tor. Kaum hat er ihn, folgt eine schwere Knieverletzung. Kommt Neuer nun zurück?
Barcelona - Marc-André ter Stegen mit großen Schmerzen auf dem Rasen. Marc-André ter Stegen am Hinterausgang eines Krankenhauses, im Rollstuhl, vorbei an großen grünen Müllcontainern begleitet von Teambetreuern zum schwarzen Kleinbus. Diese Bilder aus Villarreal schockten nicht nur Hansi Flick. Auch Julian Nagelsmann reagierte mit großer Betroffenheit. Das Verletzungsdrama um den Torwart des FC Barcelona und der Fußball-Nationalmannschaft lässt niemanden kalt.
Ter Stegen fällt kurz nach seiner über Jahre herbeigesehnten Beförderung zur Nummer eins im deutschen Tor als Nachfolger von Manuel Neuer monatelang aus. Mit einem roten Ausrufezeichen versah Barça die Mitteilung zur Diagnose: kompletter Riss der Patellasehne im rechten Knie. Am Nachmittag wurde er nach Club-Angaben erfolgreich operiert. Wie lange er genau ausfällt, hänge vom Verlauf der Reha ab, hieß es weiter.
Das Pech des 32-Jährigen rührte natürlich überall das Mitgefühl. "Schnelle Genesung", schrieb der einstige DFB-Kollege und Real-Rivale Toni Kroos bei X. Der DFB versah das Bulletin von Barça auf der Plattform X mit drei gebrochenen Herzen.
Nagelsmann machte sofort klar, was die Verletzung seines Schlussmanns bedeutet. "Die Nachricht von Marcs Verletzung war ein großer Schock für uns. Er wird uns in der Nationalmannschaft auf und neben dem Platz sehr fehlen. Wir wünschen Marc alles Gute für die Operation und eine gute und schnelle Genesung. Wir werden auf seinem Weg zurück immer für ihn da sein!", versprach der Bundestrainer.
So drückte sich auch Rudi Völler aus. "Ich wünsche ihm die schnellstmögliche Genesung, wir alle bei der Nationalmannschaft stehen auf dem ihm bevorstehenden Weg bis zum Comeback fest an seiner Seite. Marc hat im Laufe seiner Karriere schon einige Rückschläge verkraften müssen. Er wird auch dieses Mal gestärkt zurückkommen, davon bin ich überzeugt", betonte der DFB-Sportdirektor.
Flick und Nagelsmann brauchen Lösungen
Flick muss als Club-Coach schnelle Antworten finden, wer ter Stegen bei Barça als Kapitän und im Tor vertreten soll. Doch auch sein Nachfolger als Bundestrainer braucht rasch eine Antwort. Schon in der kommenden Woche will Nagelsmann seinen Kader für die nächsten Länderspiele in der Nations League in Bosnien-Herzegowina (11. Oktober) und in München gegen die Niederlande (14. Oktober) benennen. Seine "klare Nummer eins" ter Stegen wird absehbar für die DFB-Elf nicht verfügbar sein, möglicherweise bis in den Sommer des kommenden Jahres.
Der schnelle Fan-Reflex: Jetzt muss Neuer, obwohl mit leichteren Oberschenkelbeschwerden beim FC Bayern gerade selbst angeschlagen, seinen DFB-Rücktritt rückgängig machen. Doch Nagelsmann wird ganz genau abwägen, was für die gerade so verheißungsvolle Entwicklung der Nationalmannschaft Richtung WM 2026 am besten ist. Er hat verschiedene Optionen, die aller einer Richtungsentscheidung gleichkommen. Die Formel heißt erstmal Neuling oder Neuer?
Die Option Baumann:
Oliver Baumann war bei der EM eine brave Nummer drei. Klaglos wartet der Schlussmann der TSG Hoffenheim schon lange auf sein erstes Länderspiel. Und das im hohen Fußball-Alter von 34 Jahren. Sein Debüt in Bosnien-Herzegowina wäre logisch. Formal ist er die Nummer zwei hinter ter Stegen gewesen. Doch ist Baumann die WM-Alternative? Im übernächsten Sommer wäre er 36. International wird er im Kraichgau nur bedingt gefordert, am Mittwoch in Midtjylland/Dänemark in der Europa League. Und aktuell läuft es bei ihm nicht. Elf Gegentore in vier Bundesligaspielen nervten Baumann nach dem 1:2 bei Union Berlin am Samstag.
Die Option Nübel:
Am kommenden Montag wird Alexander Nübel schon 28 Jahre alt. Dennoch gilt die Bayern-Leihgabe des VfB Stuttgart als Mann der Zukunft in der Nationalmannschaft. Ein Länderspiel hat aber auch er in seiner wechselvollen Karriere mit Wanderjahren nach Monaco noch nicht bestritten. Vor der EM wurde er von Nagelsmann als vierter Torwart gestrichen, ausdrücklich nicht aus Leistungsgründen, wie der Bundestrainer hervorhob. Wenn Nagelsmann ihm jetzt das Vertrauen gibt, ist das eine Perspektiv-Entscheidung Richtung Amerika und das Signal, dass eine konstante Alternative zu ter Stegen aufgebaut werden soll.
Die Option Neuer:
"Mit dem heutigen Tag endet meine Karriere bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft", sagte Neuer am 21. August. Gut einen Monat später könnten diese Worte hinfällig sein. Denn der DFB-Rücktritt nach 124 Ländersielen, acht großen Turnieren und vielen Torwartrekorden fiel dem 38-Jährigen nicht so leicht. Nagelsmann wollte aber - wenn man die Signale richtig deutet - auch einen neuen Impuls auf dieser Position.
Neuer mag also keine Option für den Oktober sein, zumal ihn gerade der Oberschenkel zwickt. Aber eine generelle Option bleibt die Torwart-Legende natürlich - auch für die WM. Nagelsmann könnte ihn auch noch unmittelbar vor dem Turnier reaktivieren, sollte dann Not herrschen und Neuer mit 40 Jahren noch Form und Fitness haben.
Die Option Konkurrenzkampf:
Unmissverständlich hatte Nagelsmann klargemacht: Ter Stegen ist die Nummer eins. Der Bundestrainer schätzt auch klare Verhältnisse auf dieser Position. Doch nun könnte er abweichen. Festlegen muss er sich auch nicht. Er kann Baumann und Nübel in einen Zweikampf schicken, beiden zum Länderspieldebüt verhelfen und sehen, wer mit der Situation am besten umgeht.
In der Hinterhand hat er auch noch zwei Kandidaten, die schon bewiesen haben, dass sie im Nationaltrikot performen können. Bernd Leno (32/9 Länderspiele) vom FC Fulham verpasste die EM wegen einer Operation. Kevin Trapp (34 Jahre/9 Länderspiele) stünde nach auskurierter Muskelverletzung auch wieder bereit.
Wann ter Stegen überhaupt wieder bereit sein kann, wird sich zeigen müssen. Auch die Spiele gegen Bosnien-Herzegowina und in Ungarn Mitte November sind unrealistische Ziele, im März startet das Länderspieljahr 2025, im Juni könnte es um den Titel in der Nations League gehen.
Der Zeitpunkt der Blessur ist in jedem Fall ein richtiger Tiefschlag für den einstigen Gladbacher. Kapitän bei Barça und endlich, endlich deutsche Nummer eins. Das war der Status quo bis zur vermaledeiten Flanke in Villarreal, der Landung und dem Schmerzensschrei. Die Erkenntnis, dass im Knie etwas kaputt ist, muss schnell dagewesen sein. Dass die Kollegen 5:1 gewannen, auch für Flick war das nur noch sekundär.
Beförderung war "Balsam"
Vor gut zwei Wochen hatte ter Stegen über seine Rolle als DFB-Stammkraft gesprochen. "Balsam für die Seele" sei diese. "Ich bin froh, dass die Zeit des Wartens jetzt vorbei ist. Ja, ich freue mich auf die neue Aufgabe, auf das, was kommt. Ich möchte erfolgreich sein", sagte er und bestätigte seine gute Form auch bei den Partien in der Nations League gegen Ungarn (5:0) und in den Niederlanden (2:2), seinen Länderspielen Nummer 41 und 42. seit dem Debüt im Jahr 2012.
Auch beim FC Barcelona lief es zuletzt gut für ter Stegen als neuem Kapitän. In den ersten sechs Ligaspielen gelangen sechs Siege - der letzte wurde aber teuer bezahlt. Jetzt geht das Warten für ter Stegen auf andere bittere Weise weiter.