Bei der EM 2012 war Toni Kroos lange gefrusteter Bankdrücker, zwei Jahre später ist er zum WM-Auftakt der disziplinierte Lenker in der Mittelfeldzentrale. Der Münchner ist gereift - und spielt in Brasilien auch für einen neuen Vertrag vor.

Der Reporter aus den USA spricht ganz hervorragend Deutsch und trägt seine Frage in sehr freundlichem Tonfall vor. Warum, so will er von Toni Kroos wissen, habe der Nationalspieler in den ganz großen Partien der Vergangenheit nie so gut gespielt wie beim deutschen WM-Auftakt gegen Portugal? Kroos überlegt kurz, er runzelt die Stirn, dann antwortet er kühl: „Sie haben zuletzt offenbar nicht viele Spiele von mir gesehen.“

 

Toni Kroos will sich nicht mehr rechtfertigen müssen. Er will nicht länger ankämpfen gegen die Zweifel, die ihn jahrelang begleitet haben, gegen den Vorwurf, er schöpfe sein riesiges Talent nicht aus und tauche unter, wenn es hart auf hart kommt. Er muss das auch nicht mehr. Denn wie es scheint, hat Toni Kroos diesen Kampf vorerst gewonnen.

Beim 4:0-Auftaktsieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal hat der Münchner Mittelfeldspieler eine famose Leistung geboten. Er war Taktgeber und Ballverteidiger, er spielte kluge Pässe, und ihm war kein Weg zu weit. Mit 11,7 Kilometern lief Kroos mehr als jeder andere, er hatte 91 Ballkontakte und brachte 76 von 79 Zuspielen an den Mann. Zwei von ihnen führten zu Toren von Thomas Müller. „Genau so haben wir uns das vorgestellt“, sagt der Bundestrainer Joachim Löw.

Kroos galt schon früh als Jahrhunderttalent

Es war ein weiter Weg bis zu diesem Prachttag in Salvador, auch wenn Toni Kroos erst 24 ist. Schon ganz früh galt er als Jahrhunderttalent. Bei der U-17-WM 2007 wurde er zum besten Spieler des Turniers gekürt. Und bei den Bayern, wo er im gleichen Jahr als bis dahin jüngster Spieler in der Geschichte des Rekordmeisters in der Bundesliga debütierte, reservierte man für ihn das Trikot mit der Nummer zehn. Es macht die Sache nicht immer leichter, wenn so viel Hoffnung auf den Schultern eines jungen Spielers ruht.

Kroos nahm einen Umweg, er ließ sich für zwei Jahre an Bayer Leverkusen ausleihen und kehrte 2010 nach München zurück. Jetzt wurde er Stammspieler, sein Trainer Jupp Heynckes, der ihm schon in Leverkusen vertraut hatte, wurde auch in München sein großer Förderer. Allerdings fehlte er in der entscheidenden Phase verletzt, als die Bayern 2013 das Tripel gewannen. Bestätigt sahen sich die Zweifler: Kroos, so sagten sie, mag ein begnadeter Kicker sein – um Titel zu gewinnen, bedürfe es aber anderer Typen. Nicht so einen Schönspieler, der sich dauernd den Scheitel zurechtlegt und schon mal beleidigt die Handschuhe wegwirft, wenn er ausgewechselt wird.

Bei der EM 2012 sorgte er für schlechte Stimmung im Team

Demonstrativ hatte Kroos seinen Frust auch zur Schau gestellt, als er bei der EM 2012 nur auf der Ersatzbank saß. Auch er war gemeint, als zuletzt die Rede davon war, dass der Teamgeist im Mannschaftsquartier in Danzig viel schlechter gewesen sei als nun im Campo Bahia. Nur einmal kam Kroos bei jener EM von Beginn an zum Einsatz: im Halbfinale gegen Italien (1:2), als er Andrea Pirlo bewachen sollte – ein Unterfangen, das kolossal scheiterte. „Ich habe mich weiterentwickelt und bin reifer geworden“, sagt Toni Kroos nun nach dem ersten Spiel in Brasilien.

Bei den Bayern ist er in dieser Saison der passsicherste Spieler der gesamten Champions League gewesen, noch vor dem Spanier Xavi und seinem Mitspieler Philipp Lahm. Und maßgeblich war er daran beteiligt, dass die Münchner nicht nur in Rekordzeit die deutsche Meisterschaft gewannen, sondern am Ende auch den DFB-Pokal holten. Im Finale gegen Dortmund bot Kroos eine überragende Leistung. Nachdem Lahm früh rausmusste, spielte er als alleiniger Sechser vor der Abwehr – und bewies: er kann nicht nur schön spielen, er kann auch Zweikämpfe gewinnen. „Vielleicht haben einige Beobachter genau so ein Spiel gebraucht, um das zu erkennen“, sagt er.

Auch dadurch ist seine Bedeutung bei den Bayern noch einmal gestiegen. „Ich übernehme jetzt mehr organisatorische Aufgaben auf dem Platz“, sagt Kroos und berichtet von einem Gespräch mit seinem Vereinstrainer Pep Guardiola. Der habe ihn vor einiger Zeit beiseitegenommen und gesagt: „Je besser man wird, desto defensiver spielt man.“ Da sei etwas dran, findet Kroos, der nun darauf wartet, dass sich die gestiegene Verantwortung auch auf den Kontoauszügen bemerkbar macht.

Europas Topclubs werben um die Dienste des Münchners

Wie Thomas Müller will er aufsteigen in die Kategorie der Topverdiener. Sein Vertrag in München läuft bis 2015, bislang erfolglos laufen seit Monaten die Gespräche über eine Verlängerung. Kroos weiß: jedes gute WM-Spiel wird seine Verhandlungsposition verbessern. Täglich gibt es neue Gerüchte. Der FC Chelsea und Manchester United, so heißt es, seien brennend interessiert an dem Mann, der auch im Nationalteam unverzichtbar geworden ist.

Maßgeschneidert scheint für Kroos das neue deutsche 4-3-3-System, in dem es keinen echten Spielmacher mehr gibt, dafür aber drei zentrale Mittelfeldspieler, die variabel die Positionen tauschen und sich auf dem ganzen Feld austoben sollen. Kroos ist kein klassischer Zehner, er ist auch kein reiner Abräumer vor der Abwehr, er kann von allem etwas. Als Allrounder sieht er sich, als einer, der sämtliche Aufgaben im Mittelfeld erfüllen kann. „Hauptsache, ich darf im Zentrum spielen“, sagt er, „dann ist alles gut.“

Von Joachim Löw ist Toni Kroos einst als „Zwischenspieler“ bezeichnet worden; „Garçom“ nennen sie in Brasilien Spieler wie ihn, „Kellner“ also. Er habe nichts gegen diesen Begriff einzuwenden, sagt Kroos, schließlich bediene er auf dem Spielfeld sehr gerne die Kollegen. Nach Feierabend aber sieht er sich in einer ganz anderen Rolle: „Da nehme ich die Getränke lieber entgegen.“