Nach dem 0:0 gegen Polen musste Weltmeister Deutschland viel Kritik einstecken. Jetzt meldet sich ein alter Bekannter zu Wort – dem ein großer Titel mit der „La Mannschaft“ versagt geblieben ist.

Saint-Denis - Die Diagnose aus der Ferne war präzise und zugleich betrüblich. „Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter“, urteilte Michael Ballack. Der ehemalige Kapitän vermisste beim trostlosen zweiten Spiel der deutschen Fußball-Weltmeister aber nicht nur echte Kerle - er bemängelte nach dem 0:0 gegen Polen auch deren Spielstil: „Die Schwäche dieser Mannschaft ist: Sie versuchen immer schön zu spielen, den Ball ins Tor zu tragen.“

 

Ballack ist geschätzter Experte des US-Senders ESPN, mit seiner Kritik trifft er offensichtlich einen wunden Punkt bei der deutschen Mannschaft. Mit ihren vier Zählern muss sie sich keine ernsthaften Sorgen um den Einzug ins Achtelfinale der EM machen, ein Punkt gegen Nordirland (Dienstag, 18.00 Uhr/ARD) sichert die K.o.-Runde ab. Aber Jerome Boateng brachte die Probleme schon nach dem uninspirierten Auftritt im Stade de France auf den Punkt: „So kommen wir nicht weit.“ Boateng benannte erstaunlich schonungslos die mangelnde Iddenlosigkeit und Durchschlagskraft im Spiel nach vorne. „Wir haben vorne kein Eins-gegen-Eins gewonnen, die Bewegung hat gefehlt“, bemängelte er, „wir spielen bis zum letzten Drittel gut, dann kommen wir nicht am Gegner vorbei und sind nicht gefährlich.“

Deutschland, kommentierte Ballck, wolle „diesen schönen Fußball spielen, aber manchmal musst Du dich einfach darauf konzentrieren, das Spiel zu gewinnen.“ Bundestrainer Joachim Löw musste den Urteilen wohl oder übel zustimmen. „Mit dem Remis bin ich nicht zufrieden. Vorne war die letzte Aktion vor dem Tor nicht gut, wir hatten viel zu wenig Abschlüsse. Das müssen wir besser machen“, sagte er. Löw versprach aber zugleich trotzig für das letzte Gruppenspiel am in Paris gegen Nordirland (2:0 gegen die schon ausgeschiedene Ukraine): „Wir werden das erreichen, was wir uns vorgenommen haben: den Gruppensieg.“

Wichtige Erkenntnisse aus dem zweiten Gruppenspiel

Das zweite Gruppenspiel, das wie so oft bei einem großen Turnier ziemlich danebenging, dürfte Löw immerhin wichtige Erkenntnisse gebracht haben: Das Offensivspiel funktioniert nicht. Nicht mit der falschen neun Mario Götze, nicht mit der richtigen Neun Mario Gomez. „Es kamen weder Flanken von rechts noch von links“, monierte ZDF-Experte Oliver Kahn die Art und Weise, wie der Weltmeister auf die Einwechslung von Gomez in der 72. Minute reagierte. „Wenn man ihn bringt“, ergänzte er, „müssen die Spieler auch den Plan B umsetzen“. Plan B? Von wegen, bemängelte Kahn. „Ich dachte, mit Gomez ändern sich die Dinge etwas, der Gegner muss sich auf etwas Neues einstellen. Aber seine Einwechslung hat null gebracht“, sagte der ehemalige Nationaltorhüter und DFB-Kapitän. Wenn schon Gomez, „dann sollte ich ihm vielleicht auch ein paar Bälle auf die Birne hauen“, stattdessen aber sei „im Grunde aber dieses ewige Kombinationsspiel“ weitergegangen.

Und Plan A funktionierte eben auch nicht. Kommt hinzu, dass das Mittelfeld derzeit nur Mittelmaß ist. Das Herzstück hat Rhythmusstörungen, nur Toni Kroos spielt einigermaßen im Takt. Sami Khedira ist ein Schatten seiner selbst, Julian Draxler noch zu grün. Indiskutabel sind bislang vor allem die Leistungen der Weltmeister Mesut Özil und Thomas Müller. Özils Körpersprache erinnert an einen Freizeitkicker im Sommerurlaub. Müller kämpft immerhin von der ersten bis zur letzten Minute. „Beide spielen etwas glücklos, aber das wird sich ändern“, sagt Löw, ewig der Berufsoptimist.

Über die „leere Mitte“ muss er sich dennoch Gedanken machen. Und er wird sich auch nicht immer auf das Glück verlassen können, das gegen Polen schon arg strapaziert wurde, wie Mats Hummels anmerkte: „Polen hat uns einige Male richtig in Schwierigkeiten gebracht. Am Ende hatten wir ein bisschen Glück“, sagte der Rückkehrer, der ein soldides Spiel nach seiner Rückkehr ablieferte. Löw stellte vor der Rückkehr ins EM-Camp in Evien am frühen Freitagmorgen aber auch noch das Positive heraus: „Wir sind immer noch Gruppenerster und haben alles selbst in der Hand.“