In Deutschland ist die Debatte entbrannt, wie man im Verteidigungsbündnis Solidarität mit den Franzosen ausüben kann. Der Nato-Vertrag sieht den Bündnisfall vor. Doch der Artikel 5 erweist sich bei genauem Hinsehen als dehnbar. Es gibt keinen Automatismus.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Frankreich nach den Anschlägen von Paris „jedwede Hilfe im gemeinsamen Kampf gegen den Terror“ versprochen. Bundespräsident Joachim Gauck hat „Verteidigungsbereitschaft“ gefordert und von einer „neuen Art von Krieg“ gesprochen. Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Frankreich die Unterstützung des Bündnisses zugesichert. Das hat in Deutschland eine Debatte darüber entfacht, ob die Nato nun den Bündnisfall nach Artikel fünf des Nato-Vertrags ausrufen sollte – so wie sie es nach den Al-Kaida-Anschlägen am 11. September 2001 in den USA ebenfalls gemacht hat.

 

Die Passage des Nato-Vertrags legt fest, dass ein bewaffneter Angriff auf ein Mitglied des Bündnisses „als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird“. In einem solchen Falle vereinbaren die Nato-Mitglieder einander „Beistand“ zu leisten, „indem jedes von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.

Ein Vertrag aus dem Kalten Krieg

Auf den ersten Blick klingt dieser Text eindeutig, bei genauerer Betrachtung erweist er sich als Gummiparagraf. Erstens enthält der Artikel im Fall eines solchen Angriffs keine Verpflichtung zu einem kollektiven Militärschlag. Die Mitglieder verpflichten sich lediglich, Maßnahmen zu ergreifen, die sie für „erforderlich“ erachten. Jeder Staat entscheidet im Zusammenspiel mit den Partnern, „für sich“, was er selbst tut. Damit lässt der Nato-Vertrag faktisch offen, wie robust die Allianz in einem solchen Fall reagiert und ob sie überhaupt Waffengewalt anwendet.

Zweitens stammt der Nato-Vertrag aus dem Kalten Krieg. Artikel 5 wurde geschrieben für den Fall des Angriffs durch eine feindliche Armee. Einen Tag nach dem 11. September 2001 entschied die Nato, dass auch ein Terroranschlag als Angriff nach Artikel 5 eingestuft werden kann. Die Voraussetzung dafür sei, dass der Anschlag von außerhalb der USA erfolgt ist.

Ob diese zweite Voraussetzung im Fall der Pariser Anschläge überhaupt vorliegt, ist zur Stunde offen. Nach bisherigem Erkenntnisstand war wohl mindestens ein Attentäter Franzose. Einen Automatismus für den Bündnisfall gibt es jedenfalls nicht. Die Frage wird politisch entschieden werden. Ob Frankreichs Präsident Francois Hollande in der Nato beantragen wird, den Bündnisfall auszurufen, ist offen. Am Sonntag lag in Brüssel noch kein Antrag vor. Zunächst hat Frankreich eine Sitzung der EU-Innenminister beantragt.

Unionspolitiker offen für Bündnisfall

Die Bundesregierung hat keinen Zweifel gelassen, dass sie Frankreich nach diesem Terroranschlag solidarisch zur Seite stehen werde. Ob eine Feststellung des Bündnisfalls dabei sinnvoll wäre, ist in der schwarz-roten Koalition offenbar umstritten. Außen- und Sicherheitspolitiker der Union zeigten sich in ihren ersten Reaktionen offen dafür. Der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte sagte, im Kampf gegen den Terror und zum Schutz der Bürger in Deutschland müssten „alle Sicherheitskräfte zusammenarbeiten und alle verfügbaren Mittel in Betracht gezogen werden“. Der CSU-Abgeordnete Florian Hahn sieht in den Terroranschlägen eine Kriegserklärung. „Im Zweifel wäre dann auch dies ein Bündnisfall.“ Der CDU-Parlamentarier Roderich Kiesewetter sprach sich für eine neue zivil-militärische Strategie in Jordanien, Irak und Libanon aus und brachte deutsche Aufklärungs-Tornados ins Spiel.

Die Sozialdemokraten dagegen sehen den Bündnisfall nicht als geeignete Reaktion auf die Pariser Anschläge durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ an. „Der Bündnisfall ist ein Instrument aus dem Kalten Krieg. Er passt nicht als Antwort auf die furchtbaren Terroranschläge von Paris“, sagte der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold der Stuttgarter Zeitung. Insgesamt sehe er den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags nicht als geeignete Reaktion auf die Herausforderungen des internationalen Terrorismus.

Arnold mahnt zur Zurückhaltung

Dabei beruft der verteidigungspolitische Sprecher der SPD sich ausdrücklich auf die Erfahrungen nach den Al-Kaida-Attentaten in New York und Washington am 11. September 2001. „Ich ziehe mit dieser Position auch eine Lehre aus Afghanistan: Wir dürfen uns bei einer solchen Entscheidung nicht mehr von Gefühlen leiten lassen.“ Auch Arnold hält praktische Solidarität mit Frankreich für zentral. „Natürlich muss die Allianz beraten. Aber ich sehe keinen einzigen Partner, der bereit wäre, hunderttausend Soldaten auf Dauer in Syrien einzusetzen.“ Durch eine Militärintervention von außen sei Sicherheit in Syrien nicht herzustellen. „Dort müssen wir diplomatisch und politisch vorankommen, indem wir mit Russland, Iran und Saudi Arabien zu einer Einigung über die Zukunft der Region kommen“, betont er.

Im Irak, wo der IS ebenfalls auf dem Vormarsch ist, schätzt Arnold die Lage anders ein. „Dort ist militärisch etwas zu erreichen, indem wir die örtlichen Kräfte im Kampf gegen die Terrororganisation weiter stärken“, sagte er. „Das kann heißen, den Peschmerga noch mehr Waffen zu liefern, und wir müssen überlegen, wie wir die irakische Armee im Kampf gegen den IS unterstützen können.“