Reportage: Robin Szuttor (szu)


Das Lindendasein läuft in anderen Zeitspannen ab. Von ihrer Warte aus betrachtet, muss es um sie herum wuseln wie im Zeitraffer. Sie führt ein langsames Leben.

Anfang des 13. Jahrhunderts, Tausende Kilometer östlich stürmen Dschingis Khans Horden Zentralasien, ist die Linde schon ein zierliches Bäumchen. Während der Templerorden zerschlagen wird, Luther vor dem Reichstag zu Worms steht und in Süddeutschland der Bauernkrieg wütet, bei dem auch mancher Hollenbacher mitplündert, muss die Linde höchstens Unwetter oder Hagelstürme fürchten und wächst ungebeugt zu einem stattlichen Baum heran. Eine Jugend im Mittelalter.

Dreißigjährigen Krieg überstanden


Sie steht fest verankert, als im Dreißigjährigen Krieg die Hohenloher Ebene in Blut getränkt wird und sich Hollenbach als der letzte Rest einer mit Weilern und Siedlungen bedeckten Landschaft retten kann. Sie übersteht den großen Brand anno 1718. Er entzündet sich in einem Witwenhaus gleich unter dem Pfarrhof. Die Feuersbrunst überrennt das Dorf und äschert in kürzester Zeit 42 Gebäude und Scheuern ein. Eine Frau stirbt. Allein die Kirche, die Schule und eine Handvoll Häuser bleiben verschont. Und die Linde.

Unter ihr treffen sich die Männer aus dem Dorf, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Mancher von ihnen wird "heimwehkrank, stumpfsinnig und trostlos", wie ein Johann Abel aus französischer Gefangenschaft nach Hause schreibt. Vielleicht hatte er auch die Linde vor Augen, wenn seine Gedanken in die Heimat schweiften.

Besuch von Hitler


Hitler hat den Baum wahrscheinlich auch gesehen, nachzulesen in der örtlichen Zeitungschronik von 1935: "Gegen 11 Uhr traf die telefonische Nachricht ein: der Führer kommt. Beinahe unfaßbar. Und doch, schon nach wenigen Minuten fuhr er mit seiner Begleitung durch. Nur von wenigen wurde er erkannt, aber diese werden den glücklichen Augenblick, wo sie den geliebten Führer gesehen, nie vergessen. "

In Lindenzeit gerechnet, ist das Nazireich eine Momentaufnahme. Schon rückt der Uhrzeiger weiter in die Nachkriegsära. Die Lehrerin Gertrud Rieger schreibt damals eine volkskundliche Arbeit über ihren Heimatort: "Wenn auch bei Eheschließungen oft Geld und Gut bestimmend sind, so kann ich mich auf keinen Fall entsinnen, wo hier eine Ehe geschieden worden wäre. Sitte und Zucht schaffen immer wieder Ordnung. Die Kinder wachsen ins bäuerliche Leben hinein. Wenn man in die Schule geht, wird man schon zu kleinen Arbeiten herangezogen, wenn man 13 oder 14 Jahre alt ist, können es die Eltern nicht mehr erwarten, bis sie den Jungen oder das Mädchen als ganze Arbeitskraft zählen." So etwa lebte es sich im bäuerlichen Hollenbach um 1950.

Die Linde suchte sich ihren Platz nicht aus. Der Zufall wehte sie einst hierher. Und seitdem steht sie einfach nur da. Sie hat es ganz gut erwischt. Der Baumdoktor checkt sie regelmäßig durch, die Kirchengemeinde fegt im Herbst das Laub zusammen, bergeweise. Die Hollenbacher lassen sie nicht aus dem Auge. Der Ortsvorsteher bekommt öfters Anrufe: "Rudi, do hängt an Spanngurd locker am Boam. Do miast mr danoch gugga." Frau Schlecht hat sich vor Jahren Samen von der Linde geholt und in den Garten gepflanzt. Mittlerweile steht schon eine kleine Lindengruppe hinter dem Haus - alle etwas kurzwüchsig, aber mit traditionsreichem Stammbaum.

Vieles hat sich verändert


Eine Schule gibt es heute nicht mehr im Dorf, nur der Kindergarten ist geblieben. Ein paar Ehen wurden inzwischen auch geschieden. Und die wenigsten Hollenbacher sind noch Vollerwerbsbauern. Abends kommt man nicht im Fendt vom Feld, sondern im Audi vom Bekleidungshersteller Jako im Gewerbegebiet oder von der Ventilatorenfabrik EBM-Papst drunten im Jagsttal. Oder vom Bankraub im Fränkischen. Ist die abendliche Rushhour zu Ende, kehrt wieder Ruhe ein im Dorf. Wo einstmals die Männer im Wirtshaus Adler, der inzwischen explodiert ist, vor ihren Schoppen hockten, die Bauerntöchter in der Stube nähten und daneben die Spinnräder der Mägde surrten, sitzt man heute vor dem Fernseher. Und draußen auf der Holzbank vor der Kirche rascheln die Lindenblätter im rauen Hohenloher Wind. Das alte Lied.