Vor 200 Jahren hat der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora auch extremes Unglück über Württemberg gebracht – die Folgen hierzulande waren Hungersnot und Auswanderung. Doch die Naturkatastrophe war auch ein Anstoß für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Stuttgart - Vor 200 Jahren hat sich in Südostasien eine Naturkatastrophe ereignet, deren Auswirkungen das Leben in Württemberg dramatisch verändern sollten. Am 5. April 1815 ist auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora explodiert und hat eine gigantische Aschewolke in den Himmel geschleudert. Zehn Tage lang, bis zum 15. April. Und hinterher war der ehemals 4300 Meter hohe Vulkan nur noch 2850 Meter hoch. Die Sprengkraft von umgerechnet 170 000 Hiroshimabomben hat ihn in Stücke gerissen.

 

Es war der größte Vulkanausbruch der Neuzeit, die stärkste Eruption seit 26.000 Jahren, mehr als zehnmal so heftig, wie der Ausbruch des Krakatau im August 1883. Mehr als 70.000 Menschen auf Sumbawa und den umliegenden Inseln sind 1815 im glühend heißen Ascheregen und durch den abschließenden Tsunami gestorben.

Ein gewaltiger Teil der Aschewolke ist extrem hoch in die Atmosphäre geschossen und hat seinen Weg in die nördliche Halbkugel genommen. Mit dramatischen Auswirkungen auf das Wetter in Europa. Auf 1815 folgte das kälteste und dunkelste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. So ist 1816 längst als „Das Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingegangen.

Vor allem das Gebiet zwischen Main und Alpen hat es durch ungünstige meteorologische Verhältnisse ganz besonders schlimm erwischt: die fahle Sonne hinter einem diffusen Schleier versteckt, die Temperaturen weit unter dem Jahresdurchschnitt, dafür permanente Regengüsse, sodass Baden, Württemberg und Vorarlberg beinahe im Wasser versanken.

Das Getreide verschimmelte am Halm

Im Juni fiel noch Schnee, im August gefror schon wieder der Boden. Das Getreide verschimmelte am Halm, die Kartoffeln verfaulten in den Äckern, Äpfel, Birnen und Trauben wurden nicht reif. Und das, nachdem schon die Jahre zuvor in klimatischer Hinsicht und durch den elend langen Krieg mit Napoleon schlimm genug verlaufen waren.

Als Folge schraubten sich die Lebensmittelpreise in astronomische Höhen. Unbezahlbar für den Großteil der Bevölkerung. Nur ganz wenige konnten es sich leisten, Essen oder Saatgut zu kaufen. So kam es zu einer gravierenden Hungersnot. Oft genug haben sich die verzweifelten Menschen mit Bucheckern den Magen gefüllt, mit zu Brei zermahlenen Eicheln, mit Wurzeln und anderen Sattmachern von eher zweifelhaftem kulinarischen Nährwert.

Die nächste Station war das Armenhaus. Oder die Auswanderung.

Es kam zu einem massenhaften Exodus, wobei die Schultheißen vieler Orte den „Hungerleidern“ sogar noch die Reisekosten bezahlten, damit sie nicht mehr aus öffentlichen Kassen und der Dorfgemeinschaft unterstützt werden mussten.

König Wilhelm I. handelt schnell

Dabei verlor Württemberg ausgerechnet viele junge Bewohner, die keine Zukunft mehr für sich sahen. Eine vertrackte Situation (ganz ähnlich jener heutzutage in Südeuropa). Württemberg als Armenhaus Europas! Schon wurde darüber spekuliert, ob Württemberg überhaupt noch eine Zukunft habe, oder ob es sich unter die Fittiche eines anderen Staates flüchten müsse.

Vor diese düstere Situation sah sich der junge König Wilhelm gestellt, nachdem er am 30. Oktober 1816 den Thron bestiegen hatte. Er handelte sofort: Die Regierung setzte Obergrenzen für die Lebensmittelpreise fest und verbot den Export. Gleichzeitig wurden im Ausland riesige Mengen Getreide eingekauft, um zumindest die ärgste Not zu lindern.

Auch das Volksfest geht auf den Vulkanausbruch zurück

Wilhelm I. und seine Frau, die russische Zarentochter Katharina Pawlowna, versuchten alles, um das Ruder herum zu reißen. Von 1818 an ging es Schlag auf Schlag: die Leibeigenschaft wurde endgültig abgeschafft, soziale Einrichtungen, Bildung und Landwirtschaft gefördert. Am 28. September fand die Gründung eines Landwirtschaftlichen Festes zu Cannstatt statt – zum Zweck der Modernisierung und Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft – das „landwirtschaftliche Fest zu Kannstatt“ wurde zum Landwirtschaftlichen Hauptfest, aus dem das Volksfest hervorging (das heutzutage das zweitgrößte Volksfest der Welt ist).

Im November 1818 richtete man im ehemaligen Lustschloss des Herzogs Carl Eugen in Hohenheim eine Landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt ein (die spätere Universität Hohenheim). Überall auf der Welt ließ der König Rinder, Schweine und Ziegen ankaufen, um leistungsfähigere Nutztiere zu züchten. Um 1820 sind dabei auch chinesische Maskenschweine nach Württemberg gekommen, die mit den hiesigen Schweinen gekreuzt wurden. Am besten hat die Aufzucht der neuen robusten Schweinerasse in Hohenlohe geklappt; im Land um Schwäbisch Hall wurden die vom Volksmund so genannten Haller „Mohrenköpfle“ schnell zur dominierenden Schweinerasse. Im Gestüt Marbach forcierte man die Zucht der Araberpferde, da sich König Wilhelms Araberpferd in den Napoleonischen Kriegen als ganz besonders robust erwiesen hatte – eine Art Rüstungsindustrie auf der Alb.

Königin Katharina engagierte sich sozial

Parallel dazu konzentrierte sich Königin Katharina auf den sozialen Bereich. Das Geld dafür hat sie zum Großteil aus der eigenen Schatulle genommen – und sie konnte auch noch ihre Mutter, die Zarenwitwe Maria Feodorowna dafür gewinnen, recht großzügige Spenden nach Württemberg zu überweisen.

So gründete Katharina den Landeswohltätigkeitsverein. Das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“: bescheidene Anschubfinanzierung, Beratung, Entwicklung, schließlich der Weg in die Eigenständigkeit. Genau dieser Weg wurde vor einigen Jahren in der Entwicklungshilfe wieder entdeckt. Auch das Katharinenstift, seit 1818 eine höhere Schule für Mädchen, die diesen bessere Bildungschancen ermöglichen sollte, und die Gründung der württembergischen Landessparkasse im März 1818 gehen direkt auf Katharinas Initiative zurück. Nicht zu vergessen natürlich das Katharinenhospital, dessen Bau sie durch ihren viel zu frühen Tod nicht mehr selbst erleben konnte.

Niemals für möglich gehaltenes Wachstum

König Wilhelm war sich bewusst, dass die wirtschaftlichen Grundlage von Württemberg gestärkt werden musste. Und das in einem Land, das fast gar keine Bodenschätze besitzt. So beschloss er, den einzigen Rohstoff zu fördern, über man verfügte: Den sprichwörtlichen schwäbischen Fleiß und das Tüftel-Genie der Württemberger.

Als Leiter der Zentralstelle für Handel und Gewerbe wurde der in Ilsfeld aufgewachsene Bergbaufachmann Ferdinand Steinbeis eingestellt, der im ganzen Land Gewerbeschulen gründete, in denen sich die Handwerker beim Abendunterricht qualifizieren konnten. Er vergab Stipendien für Auslandsaufenthalte, die seine Schützlinge dorthin führten, wo das Ausland bessere Produkte herstellte. Mit dem erworbenen Wissen führten sie neue Produktionsmethoden ein. Steinbeis hat auf diese Weise auch einen jungen Bäckersohn namens Gottlieb Daimler aus Schorndorf entscheidend gefördert – die Konsequenzen sind hinreichend bekannt.

Die nächste Herkulesaufgabe bestand darin, eine Eisenbahn zu bauen, um das hügelige Land endlich mit einer Infrastruktur zu versehen: vom Norden (Heilbronn) durch das ganze Königreich bis in den äußersten Süden (Friedrichshafen). Dabei galt es, die Schwäbische Alb mit einer extremen Steigung zu überwinden – eine zunächst als undurchführbar geltende Ingenieurleistung.

Das Wirtschaftswachstum nahm ungeahnte Ausmaße an

Gleichzeitig wurde mit dem Bauingenieur Emil Keßler jener Mann aus Karlsruhe abgeworben, der 1841 die erste in Baden gebaute Lokomotive entwickelt hatte. Mit massiver staatlicher Unterstützung gründete er 1846 die Maschinenfabrik Esslingen. Mit Erfolg: bereits ein Jahr später konnte die erste Lokomotive ausgeliefert werden. Mehr als 800 weitere sollten folgen. So wurde die Maschinenfabrik Esslingen zur Keimzelle der Industrialisierung in Württemberg.

Ihre Krönung fand die beispiellose Initiative des 1864 verstorbenen Königs am 10. November 1885. An diesem historischen Tag steuerte der 16-jährige Paul Daimler den von seinem Vater und Wilhelm Maybach konstruierten „Reitwagen“ von Cannstatt das Neckartal hinauf zum Bahnhofsvorplatz in Untertürkheim. Es war die Geburtsstunde des Automobils.

Genau 70 Jahre nach dem Ausbruch eines Vulkans im fernen Indonesien hatte sich in Württemberg der Kreis endlich geschlossen. Es mag etwas zugespitzt sein: Aber die Explosion des Tambora war letztlich der Urknall gewesen, der Württemberg ein niemals für möglich gehaltenes Wachstum beschert hat.

Zum Autor: Gunter Haug ist Schriftsteller und hat viele Bücher zu historischen Themen in Württemberg veröffentlicht, darunter auch romanhafte Biografien zu Ferdinand Porsche und Ferdinand Graf Zeppelin. Sein neues Buch „Schwäbische Sternstunden – Wie wir Weltspitze geworden sind“ erscheint im September.