Naturphänomen am Allgäuer Hochvogel Ein Riss mitten durch den Gipfel

Auf diesem Bild ist der metergroße Spalt auf dem Gipfel des Hochvogels im Allgäu zu sehen. Foto: dpa/3D RealityMaps G/Florian Mädler

Am Hochvogel droht ein gewaltiger Felssturz. Forscher überwachen die Bewegungen des Allgäugipfels mit hochsensiblen Sensoren. Was verraten die Töne, die solche Messgeräte aufzeichnen? Und wann wird es gefährlich?

München - Der Riss quer durch den Gipfel des Hochvogels im Allgäu ist kaum zu übersehen. In 2592 Meter Höhe klaffen auf einer Länge von 30 Metern der Nordwest- und der Südost-Teil des Kalkgesteins zwei bis sechs Meter breit auseinander. Unten haben sich in rund zehn Meter Tiefe herabstürzende Felsblöcke in diesem riesigen Spalt verkeilt. Sie werden dort nicht bleiben, sondern weiter abrutschen. Schließlich reißt der Fels immer weiter auf. Allein zwischen 2014 und 2020 klafften die beiden Seiten des Gesteins 35 Zentimeter weiter auseinander, berichten Johannes Leinauer und seine Kollegen von der Technischen Universität München (TUM) in der Fachzeitschrift „Geomechanics and Tunneling“.

 

Irgendwann wird an der Südseite des Hochvogels eine Felsmasse von rund 260 000 Kubikmetern oder dem Volumen von 260 geräumigen Einfamilienhäusern in das darunterliegende österreichische Hornbachtal auf einen Schlag oder in mehreren Teilen abrutschen.

Der Wind erzeugt Melodien am Berg

Was in den Wochen, Monaten und Jahren davor passiert, möchten Michael Dietze vom Helmholtz-Zentrum Potsdam, dem Deutschen Geo-Forschungs-Zentrum (GFZ), und seine Kollegen herausbekommen, wenn sie die leisen Melodien des Berges mit ihren Hightech-Geräten belauschen.

Solche Melodien entstehen, wenn der Wind gegen die Allgäuer Alpen drückt oder in der Sächsischen Schweiz ein schwerer Güterzug im Tal unter den Felswänden vorbei rattert. Erschüttern solche Kräfte den Boden ein wenig, laufen für Menschen meist gar nicht wahrnehmbare Wellen durch den Untergrund.

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Die „Seismometer“ genannten Hightech-Messgeräte des GFZ können aber sogar einen einzelnen Regentropfen messen, der auf den Boden platscht. Prasselt ein stärkerer Schauer auf den Berg, zeichnen die Geräte ein kontinuierliches Rauschen auf, das allerdings die Messungen stört.

Im Sommer 2018 bauten Michael Dietze und seine Kollegen rund um den Riss im Hochvogel-Gipfel ein Netzwerk von sechs solcher Seismometer auf, die im Abstand von 30 bis 40 Metern stehen. Seither belauschen sie damit den felsigen Untergrund und seine Melodien. Diese entstehen ähnlich wie bei der Saite einer Gitarre: Spannt der Spieler beim Stimmen des Instruments eine Saite stärker, wird der Ton höher. Im Fels eines Berges passiert etwas Ähnliches: „Steigt die Spannung im Gestein, messen unsere Geräte höhere Frequenzen“, erklärt Michael Dietze.

Jedes Gestein ist enormen Kräften ausgesetzt

Als der GFZ-Geograf die Daten aus dem Sommer 2018 auswertete, folgten die Frequenzen im Fels einer Kurve, die verblüffend den Zähnen einer Säge glich: Innerhalb von fünf bis sieben Tagen stiegen die Frequenzen von tieferen 26 auf höhere 29 Hertz an, um dann in nicht einmal zwei Tagen wieder auf den Ausgangswert von 26 Hertz zu sinken. Wie kommt diese Kurve zustande? Weshalb ändern sich die Spannungen im Gestein?

Jedes Gestein ist durch das eigene Gewicht und den Druck der darüberliegenden Schichten enormen Kräften ausgesetzt, die an steilen Hängen an der Außenseite nicht abgefangen werden können. Genau dort aber steigen tagsüber die Temperaturen und die Materialien im Gestein dehnen sich unterschiedlich stark aus, während sie sich in der Nacht bei sinkenden Temperaturen wieder zusammenziehen. Mit der Zeit wird der kompakte Fels immer weiter zerlegt und ist irgendwann so locker, dass ein Teil der Masse beginnt, langsam nach unten zu rutschen. Allerdings verhaken sich die Felsschichten dabei mit dem danebenliegenden Gestein. Das Abrutschen wird um solche Stellen herum gestoppt und die Spannung steigt.

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Nach fünf bis sieben Tagen sind die von Michael Dietze belauschten Frequenzen und damit auch die Spannungen so groß geworden, dass die verhakten Schichten abreißen und die Südseite der Bergflanke wieder abzurutschen beginnt. Spätestens nach zwei Tagen beginnt das Spiel von vorne. Dieses typische Auf und Ab der Spannungen in einer Sägezahnkurve gilt als typischer Vorbote von großen Hangrutschungen mit möglicherweise katastrophalen Folgen, wenn die Felsmassen im Tal Siedlungen, Straßen, Bahnen, Häuser oder andere Infrastruktur unter sich begraben. Am Hochvogel sollte der zu erwartende Felssturz zwar keine größeren Schäden anrichten, an anderen Steilhängen ist die Gefahr dagegen größer. Daher möchten die Forscher gerne wissen, wie sich die Melodie des Berges, wie sich sein Sound vor einem solchen Bergsturz verändert – und was dabei im Untergrund passiert.

Sonnenstrahlen dehnen das Gestein aus

Eine entscheidende Rolle spielt offensichtlich das Wasser: So flachte die Sägezahnkurve der Frequenzen 2018 mit der Zeit immer weiter ab und verschwand im Spätsommer dieses Dürrejahres dann ganz. „Offensichtlich war dann das Wasser der Schneeschmelze aufgebraucht und dem Gestein fehlte das Schmiermittel“, erklärt Michael Dietze.

Ganz ähnliche Vorgänge hat der GFZ-Forscher bereits an den Kreidefelsen in Rügen beobachtet. Dort dringen starke Regenfälle in den Untergrund und verwandeln den Kalkstein in eine breiige Masse. Nach reichlichen Niederschlägen können dann schon einmal die berühmten Felsen im Nationalpark Jasmund zur Ostsee hinunterrutschen.

Welchen Einfluss hat der Winter?

Das passiert aber meist im Winter und nur selten im Sommer: „Dann zieht die Vegetation das Wasser aus dem Kalkgestein und die Felsen sind viel stabiler“, schildert Michael Dietze die Hintergründe. Eine wichtige Rolle spielen auch die Temperaturen. So dehnen die wärmenden Sonnenstrahlen das Gestein tagsüber aus, kleinere Klüfte schließen sich und die Frequenz steigt, während die Kühle der Nacht diese Prozesse dann wieder umkehrt.

Wie aber spielen diese täglichen und jahreszeitlichen Rhythmen zusammen? Und welchen Einfluss hat der Winter, wenn das Wasser im Fels gefriert und dabei die Risse vergrößert? Genau das wollen die GFZ- und TUM- Forscher jetzt am Hochvogel untersuchen – bis ihnen die Melodie des Berges verrät, dass der große Erdrutsch unmittelbar bevorsteht. Den Schlussakkord kennt Michael Dietze bereits: „Je enger die Zähne der Kurve stehen, umso näher ist der Abbruch.“

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