Ein Sturm braust um die Häuser, die Baumwipfel rauschen. Eisregen setzt ein. Kaum jemand hier in Stuttgart-Degerloch verlässt an diesem Freitagabend sein Haus – außer Annette Lang. Die 72-Jährige hat ihre Kapuze ins Gesicht gezogen und tastet mit ihrer Taschenlampe die nassglänzende Straße ab. In ihrer Hand schlenkert eine Plastiktasche. Da sollen die Kröten rein.
Alte Villen reihen sich in der Wohngegend aneinander. Ein paar Gartentümpel verbergen sich hinter Mauern der Roßhaustraße. Auf der anderen Seite ist der Wald. Dort kriechen und springen die Tiere im Februar, März und April in manchen Nächten zu Dutzenden heraus.
Der innere Kompass
Erdkröten können bis zu 15 Jahre alt werden. Ihr innerer Kompass ist sehr präzise: Von ihrem vierten Lebensjahr an sind sie geschlechtsreif und wandern fortan jedes Frühjahr zur Paarung an jenen Tümpel, in dem sie geboren wurden. Oft nehmen sie kilometerweite Strecken auf sich – und werden auf ihrem Weg von Autos überfahren.
Das Frühjahr ist deshalb Annette Langs Einsatzzeit: Sie will Kröten, Molche, Unken über die Straße tragen, die in der Dunkelheit die Tümpel der Gärten aufsuchen. Und das sind immer weniger. Offizielle Erhebungen gibt es nicht, aber der Amphibien-Biotop- Schutz e.V. hat sich die Zahlen von etwa der Hälfte der insgesamt 900 Sammelstellen im Land angesehen. Die Werte geben Grund zur Sorge: Seit 2006 ging die Zahl der eingesammelten Tiere um 90 Prozent zurück. Besonders einschneidend waren die Trockenjahre 2018, 2019 und 2021. Wenn Kröten nicht wandern, pflanzen sie sich auch nicht fort. Folgen noch weitere trockene Jahre, werden sich die Populationen kaum erholen können. Immerhin: der diesjährige Frühling scheint recht warm und nass zu werden. Gute Vorzeichen für den Paarungseifer der Amphibien.
Kröte oder Blatt?
Im schwachen Licht der Straßenlaterne ist eine braune Erhebung zu sehen. Eine Kröte? Annette Lang leuchtet drauf. Bloß ein Blatt. „Wahrscheinlich ist es zu kalt.“ Sie geht die Straße einmal hinunter, wieder herauf. Auf dem Rückweg knöpft sie sich die Böschung am Waldrand vor. Blatt für Blatt, Hügel für Hügel. Nichts. Auch auf dem Waldweg keine Kröte. Keine Rettungsaktion nötig heute.
Zu Hause bei Annette Lang ist es gemütlich warm. Ein Konzertflügel im Eingangsraum, Holzdielen, hohe Sprossenfenster, kleine Segelboote im Regal. Sie stellt Brezeln und Wasser für ihren Gast auf den Tisch.
„In der Natur hängt alles mit allem zusammen.“
Annette Lang hat Mikrobiologie studiert, später arbeitete sie im Qualitätsmanagement. Nun, im Ruhestand, treibt sie Sport, lernt Französisch, berät beruflich noch immer Unternehmen, engagiert sich für krebskranke Menschen. Und für Kröten. Warum Kröten? „Sie sind ein Teil unserer Welt, der nicht fehlen darf“, sagt sie. „In der Natur hängt alles mit allem zusammen.“
Und irgendwie mag sie diese Wesen auch. Ihre Rufe: Jede Kröten- und Froschart hat ihr eigenes Quaken. Die Erdkröte klingt eher leise und fiepsig. Das soll die Weibchen beeindrucken. Oft springen die Männer schon während der Wanderschaft auf die größeren Weibchen und lassen sich zum Tümpel tragen. Am Gewässer bleibt das Weibchen dann so lange umklammert, bis es anfängt, sich zu strecken und den Rücken zu krümmen. Dann rutscht das Männchen weiter nach hinten, fängt den austretenden Laich auf und gibt sein Sperma darüber. Erst wenn keine Eier mehr kommen, löst sich der Mann.
Froschschenkel auf dem Teller
Als sie ein Kind war, habe man hierzulande noch Froschschenkel gegessen, sagt Annette Lang. Heute sind die meisten Froscharten vom Aussterben bedroht. Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung mit einer Kröte: „Im Haus meiner Patentante bin ich mit nackten Füßen durch den Keller gelaufen und auf eine getreten.“ Das Tier überlebte.
Mehr als 60 Jahre später, im Frühjahr 2020, tritt Annette Lang in ihrem Auto auf die Bremse. Auf der Straße bedeuten Menschen in Warnwesten ihr, langsamer zu fahren. Sie sammeln Kröten ein. Auch in ihrem Wohnviertel gebe es Kröten, sagt die Beifahrerin. Die beiden Frauen finden tatsächlich eine einsame Kröte auf der Roßhaustraße.
Seitdem sammelt Annette Lang mit zehn Frauen, zwei Männern und Kindern die Kröten in ihrem Viertel und hilft ihnen über die Straße. Die Häuser sind hier an manchen Stellen von so lückenlosen Betonwänden und Palisaden umgeben, dass Helfer die Kröten auf die Grundstücke setzen müssen, damit sie ihre Reise fortsetzen können.
Der Nabu sucht weitere Helfer
455 Kröten und 31 Molche finden die Helfer 2020 allein in der nur wenige Hundert Meter langen Roßhaustraße. Im nächsten Jahr sind es 561 Kröten, 100 Molche, elf Frösche und ein Salamander. Wegen Straßenbauarbeiten hat sich Annette Lang in jenem Frühjahr für einen Krötenzaun eingesetzt. Die Eimer fangen mehr Amphibien ab, als es den Helfern bei ihren nächtlichen Spaziergängen gelingen kann. Die Zäune haben den Vorteil, dass damit fast alle wandernden Amphibien ohne große Verluste aufgefangen werden können: Weil die Amphibien nicht drüber springen können, kriechen sie am Zaun entlang, bis sie in den Eimer plumpsen, der am Morgen inspiziert wird. 2022 sind es 469 gerettet Amphibien.
Auch am Probstsee, in Riedenberg und in der Musberger Straße tragen private Gruppen Kröten, Molche, Frösche über Straßen. Der Umweltverband Nabu ist ebenfalls in Stuttgart aktiv. Um die 50 Helfer laufen jeden Morgen im Frühjahr die Krötenzäune am Schloss Solitude, auf der Waldebene Ost, am Frauenkopf und in der Falkenstraße ab. Es könnten noch mehr sein. An manchen Tagen ist es schwierig, die Schichten zu besetzen.
Nicht nur Autofahrer machen Kröten das Leben schwer. Ob Straßen, Äcker, Siedlungen – nahezu jeder Quadratmeter der Großstadt ist genutzt oder verbaut. Amphibien finden kaum noch Verstecke. Selbst die Gärten präsentieren sich so aufgeräumt, dass sie keinen Schutz unter Laub oder im Unterholz bieten. „Auf englischen Rasen wird keine Kröte leben“, sagt der Biologe Thomas Willig vom Nabu Stuttgart. Also: lieber Streifen mit hohem Gras und Gebüsch stehen lassen. Das Anlegen von Gartenteichen könne ebenso helfen. Trockne ein Heimatgewässer aus oder werde zugeschüttet, seien die Kröten auf neue Tümpel angewiesen, sagt Willig.
Ihre Nahrungsquelle versiegt
Auch der Klimawandel gefährde die Amphibien. Erdkröten etwa graben sich im Sommer in die Erde, um es feucht und kühl zu haben. Sind die Nächte zu trocken und heiß, schaffen es die Tiere nicht aus ihren Erdlöchern heraus und leiden unter Mangelernährung. Manche schaffen es dann wegen ihres Untergewichts nicht über den Winter. Hinzu kommt: Ihre Nahrungsquelle – Insekten, Würmer, Schnecken – versiegt wegen des Artensterbens zunehmend.
Montagabend. Donnergrollen zieht über die Stadt, Frühlingsregen. Es gab ein Gewitter – mit 106 Kröten und 14 Molchen, erfährt Annette Lang von einer Helferin aus Degerloch. Am nächsten Abend geht sie wieder auf Tour mit Tasche und Taschenlampe. Soweit sie weiß, gibt es in der Wernhaldenstraße am Bopser keine Helfer, deshalb nimmt sie sich der Gegend an. Auf der einen Seite der Straße: der Wald, in den die Tiere wollen, um zu ihrem Gewässer zu pilgern. Auf der anderen Seite: luxuriöse Bauten hinter dicken Mauern. Dazwischen die Straße mit ihren großen Gullydeckeln, deren Spalten so breit sind, dass Amphibien hineinfallen können.
Große, goldfarbene Augen und winzige Krallen
Ginge es nach Annette Lang, müssten die Gullygitter ausgetauscht und die rund 200 Meter der Straße entlang des Waldrandes für zwei, drei Tage im Jahr zum Wohl der Amphibien gesperrt werden. Die von der Stadt aufgestellten Krötenschilder würden nämlich leicht übersehen, findet Lang.
Sie geht keine fünf Schritte die Straße hinunter, da bewegt sich schon etwas am Bordstein: zwei Kröten! Mit langen Schritten krakeln sie vorwärts. Und als der Lichtstrahl der Taschenlampe sie trifft, beginnen sie zu hüpfen. Mit einem beherzten Griff landet die erste Kröte in der Tasche. Sie hat große, goldfarbene Augen. Ihre winzigen Krallen fühlen sich ganz zart an, die Haut so glatt und trocken wie Pergament-Papier. Der Mund: eine lange, beleidigte Linie, die sich am Ende, so scheint es, zu einem kleinen geheimnisvollen Lächeln aufschwingt. „Es sind schon nette Viecher“, sagt Annette Lang.