Fast 100 Jahre lang führte die Murg im Nordschwarzwald im Sommer kaum Wasser, weil Kraftwerke sie anzapften. Doch nun bessert sich die Lage – dank gesetzlicher Vorgaben.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Nordschwarzwald - Es gab in den vergangenen fast zehn Jahren immer wieder Momente, da hat Frank Hartmann und Petra Neff aller Mut verlassen. Einmal legte ein gegnerischer Anwalt einen Tag vor Prozessbeginn noch einen Katalog mit 144 Fragen vor; die Verhandlung wurde abgesagt. Dann stiegen Hartmann, der Leiter der Fischereibehörde des Regierungspräsidiums Karlsruhe, und die Juristin Neff manchmal in ihren blauen VW-Bus und fuhren hinaus an die Murg. Sie setzten sich an einer Flussbiegung ans Ufer, schlossen die Augen, lauschten und schöpften neue Kraft: „Das Rauschen des Wassers hat für uns einen ganz besonderen Klang“, sagt Neff. Denn ohne sie gäbe es das Rauschen gar nicht.

 

Seit diesem Jahr sind die beiden am Ziel: Die Murg darf wieder fließen. Man kann es kaum glauben, aber hundert Jahre lang fiel der Fluss im Sommer regelmäßig trocken. 26 Wasserkraftwerke zogen das Wasser ab, leiteten es teilweise über Kilometer hinweg durch Stollen und führten es erst hinter den Turbinen wieder ins Flussbett. Im Extremfall stand das Wasser der Murg laut Hartmann auf 50 von rund 70 Kilometern ihres Laufes zwischen Baiersbronn und Rastatt nur noch in Gumpen, die allerdings beliebte Badewannen für die Kinder waren.

Ein ökologisches Paradies, dem das Wasser fehlte

Für die Natur war diese zwangsweise Trockenlegung eine Katastrophe: „Schon nach einer Stunde ohne Wasser sind alle Mikroorganismen tot“, sagt Hartmann. Und weil die Wehre auch die Fische am Aufstieg hinderten, gab es im Oberlauf nur noch vier Arten: Bachforelle, Döbel, Schmerle und Bachneunauge. Früher waren es 16 gewesen, darunter sogar der stattliche Rheinlachs. Hartmanns Ziel ist es nebenbei, den Lachs in der Murg wieder anzusiedeln – die ersten Laichplätze gibt es schon. An der Murg erschien die Situation beinahe bizarr, denn der Fluss hat im Ober- und Mittelteil seine wilde Ursprünglichkeit bewahrt: Bundesstraße und Bahnlinie laufen in dem steilen Tal oft weit oberhalb, der Fluss selbst blieb unberührt und ist bis heute über lange Passagen nur an wenigen Stellen zugänglich. Zum ökologischen Paradies fehlte nur – das Wasser.

An dieser Stelle lässt sich auch einmal etwas Gutes über die EU sagen: Sie hat die Entwicklung im Jahr 2000 erst mit ihrer Wasserrahmenrichtlinie angestoßen. Alle Staaten verpflichteten sich, ihre Gewässer in einen guten ökologischen und chemischen Zustand zu bringen. Das gelang zwar nicht wie geplant bis 2015 – aber es wurde auch in Baden-Württemberg viel angestoßen. Vor allem erhielten die Behörden erstmals eine rechtliche Grundlage, die es ihnen ermöglichte, von den Kraftwerksbetreibern Verbesserungen zu verlangen. Um zwei zentrale Punkte geht es: Erstens soll an den Wehren ein individuell ermittelter Mindestabfluss eingerichtet werden; bei Niedrigwasser durften die Kraftwerke also nicht mehr alles Wasser abzapfen. Und zweitens soll jedes Wehr mit einer Fischtreppe ausgestattet werden.

In diesem Sommer geben an der Murg erstmals alle Kraftwerke ein „Mindestwasser“ ab, wenn auch manche noch nicht die gesamte vereinbarte Menge – es gibt Übergangsfristen. Und nur an wenigen Kraftwerken sind der Fischauf- und -abstieg noch nicht gebaut oder nicht zumindest geplant. Freiwillig aber sei nichts geschehen, erinnert sich Frank Hartmann. Die Kraftwerksbetreiber hätten versucht, die Sache auf die lange Bank zu schieben, setzten dann Gutachter und Anwälte ein und zweifelten letztlich alles an. Es ging um viel Geld, denn im Sommer verloren die Kraftwerke ein Viertel ihres Wassers.

David gegen Goliath

Oft, sagt die Juristin Petra Neff, hätten sie sich wie David gefühlt im Kampf gegen Goliath. Denn sie waren nur zu zweit und hatten zu Beginn viel zu wenig Erfahrung. Welche Fließgeschwindigkeit ist wo notwendig, damit die Fische wieder laichen? Mit welchem Gerät misst man den Wasserstand korrekt? Es gab so viele Details, und alles musste gerichtsfest sein. Doch sie hielten durch. Nach zwei Prozessen sind die Zwei im Murgtal berüchtigt, aber auch geachtet. Hartmann fasst es so zusammen: „Heute nimmt man uns ernst, weil alle wissen: Wir können beißen, und das tut weh.“

Oliver Dietrich, der Bauamtsleiter von Forbach, erkennt die Fortschritte an, bleibt aber zurückhaltend: „Wir sind glücklich und zugleich nicht ganz so glücklich.“ Manchem Kraftwerk sei wegen des Umbaus fast die Puste ausgegangen. Ob die Öffnung der Wehre wirklich so viel für die Natur bringe, müsse sich erst noch zeigen: „Eisvögel und Gelbbauchunken gab es an der Murg auch vorher schon.“ Und die Naherholungsqualität habe sich nicht wesentlich verbessert.

Der Gesprächsfaden ist niemals abgerissen

Frank Hartmann und Petra Neff wissen um diese Bedenken. Und ein wenig sind sie stolz darauf, dass der Gesprächsfaden trotz aller Konflikte zu niemandem abgerissen ist. Die meisten hätten sogar irgendwann erkannt, dass der Umbau der Wehranlagen auch Chancen bietet. So hat etwa das Papierunternehmen Katz aus Weisenbach neue Turbinen eingebaut, weshalb die Anlage heute eine weit höhere Effizienz aufweist. Einen Millionenbetrag hat das Unternehmen investiert. Das ist viel Geld, aber Frank Hartmann hält es dennoch für gerechtfertigt, dass keine öffentlichen Zuschüsse geflossen sind. Erstens hätten die Kraftwerke das Wasser 100 Jahre lang kostenlos nutzen können, und zweitens hätten sie seit einiger Zeit aus dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz Geld erhalten, das an ökologische Verbesserungen geknüpft sei. Jetzt würden die Maßnahmen eben fällig.

Statt einer Fischtreppe ist auch ein Fischaufzug möglich

Nicht nur Katz hat laut dem Regierungspräsidium vorbildlich saniert. Auch die EnBW ist gerade dabei, das mit Abstand größte Wasserkraftwerke an der Murg zu modernisieren. Zwischen oberem und unterem Wehr liegen sieben Kilometer – das war die längste zusammenhängende Strecke, die im Sommer wasserlos war. Seit April 2016 fließt dort das Mindestwasser. Der EnBW entgehen dadurch nach eigener Auskunft jährlich etwa 14 Gigawattstunden; die finanzielle Einbuße liegt damit im sechsstelligen Bereich. Dennoch sei die EnBW nicht nur an der Murg an der technischen und ökologischen Erneuerung ihrer Wasserkraftwerke interessiert, lobt Hartmann – das sei umso höher zu bewerten, als das Unternehmen derzeit schwierige Jahre durchmache. Insgesamt will die EnBW 11,5 Millionen Euro in das Fettweis-Werk an der Murg investieren, sagt die Projektleiterin Angelika Böhringer.

Dabei gibt es übrigens ein Novum. Da die beiden Staumauern sehr hoch sind und es im engen Tal kaum Platz gibt, sind herkömmliche Fischtreppen nicht möglich. So sollen zwei Fischaufzüge gebaut werden, die die Firma Baumann in Wangen im Allgäu erfunden hat und die noch kaum irgendwo eingesetzt werden. Die Fische werden von einer „Lockströmung“ angezogen und schwimmen in einen Metallzylinder, dessen Klappe nach einiger Zeit zugeht. Dann dürfen die Fische Aufzug fahren und werden oben in den Stausee entlassen. Umgekehrt funktioniert das auch.

Oberhalb von Forbach kann man auf einem Waldweg zur Murg hinuntergelangen. Große Felsen liegen im Wasser, auf Kiesinseln wächst hoch das Gras, in Nebenläufen finden Jungfische ideale Rückzugsgebiete. Petra Neff setzt sich auf einen Felsen, lauscht wieder dem Rauschen des Wassers und sagt: „Dieses Verfahren war unglaublich aufwendig und komplex. Aber es war das Beglückendste, was ich bisher in 31 Berufsjahren erleben durfte.“

Viel Geld für die Flüsse

Vorgabe – w
as für ein sperriges Wort: Aber die „EU-Wasserrahmenrichtlinie“ aus dem Jahr 2000 hat auch in Baden-Württemberg einen gewaltigen Schub bei der ökologischen Aufwertung der Flüsse und Seen gebracht. Ziel ist es, überall einen „guten“ Zustand zu erreichen. Das sei allerdings, sagte Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) Ende 2015 bei der Vorstellung der neuen Pläne, „trotz aller Fortschritte leider überwiegend“ noch nicht erreicht.

Auf 6000 Flusskilometern, was 13 Prozent des Gewässernetzes im Land entspricht, sind 1500 Maßnahmen geplant, um die Durchgängigkeit der Flüsse für Fische und eine ausreichende Mindestwasserführung herzustellen. Auf 840 Kilometern sollen die Flüsse mehr oder weniger stark renaturiert werden. Alle Maßnahmen würden nach derzeitigem Stand 511 Millionen Euro kosten.

Darüber hinaus ist es notwendig, die Kläranlagen auszubauen, um etwa die Nitratbelastung aus der Landwirtschaft zu verringern. Diese avisierten rund 600 Projekte würden weitere 318 Millionen Euro kosten.