Der emeritierte Professor für Ornithologie Peter Berthold forscht seit 65 Jahren am Bodensee und gilt vielen als „Vogelpapst“. Seine Ergebnisse sind alarmierend.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Owingen-Billafingen - Immer wieder unterbricht Peter Berthold seine Erzählungen. „Schauen Sie da, ein Teichrohrsänger“, ruft er, und ein paar Minuten später: „Jetzt hört man einen Eisvogel.“ Berthold, der nicht nur wegen seines langen, weißen Barts eine eindrucksvolle Gestalt ist, steht am Aussichtssteg des Heinz-Sielmann-Weihers bei Billafingen (Bodenseekreis) und sucht mit dem Fernglas die Wasserfläche ab – eine seltene Kolbenente hat er entdeckt, Schwäne ziehen mit Jungen durch das Schilf, es gibt Blesshühner und Stockenten.

 

Wo jetzt der See liegt, waren vor 13 Jahren noch Wiesen. Mithilfe der Heinz-Sielmann-Stiftung hat Berthold, der heute 79 Jahre alt ist und seit seiner Emeritierung vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell mehr arbeitet als zuvor, dieses 20 Hektar große Biotop geschaffen. Und es war nur das erste: Zum Biotopverbund Bodensee gehören heute 110 Naturschutzflächen an 36 Standorten. Mit seiner Redekraft hat Berthold Politiker und Gemeinderäte davon überzeugt, dass es wichtig ist, etwas für Vögel, Insekten und Amphibien zu tun – ein riesiger Erfolg. Ein Erfolg? Berthold schüttelt so heftig den Kopf, dass sein Rauschebart wackelt. Fast nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sei es.

Seit mehr als 60 Jahren im Dienste für die Vögel

Schon als 15-Jähriger hat der gebürtige Zittauer Vögel beobachtet und gezählt, seither hat er sich ihnen mit Haut und Haar verschrieben. Später, als Chef des Radolfzeller Instituts, hat er an eigens eingerichteten Zählstationen am Bodensee, bei Hamburg und am Neusiedler See untersucht, wie sich die Arten entwickeln. Parallel hat er alle historischen Bücher gewälzt, die er in die Finger bekommen konnte.

Das Ergebnis ist deprimierend und in höchstem Maße alarmierend. Zwischen 1800 und 1960 sei die Zahl der Individuen bei den Vögeln um 15 Prozent zurückgegangen, sagt Berthold – doch zwischen 1960 und 2018 seien es nochmals 65 Prozent. Heute gebe es also nur noch ein Fünftel so viele Vögel wie vor 200 Jahren – und 55 Prozent aller Arten seien ernsthaft bedroht. Nur wenige Arten hätten sich gut eingerichtet mit den Menschen, wie die Graugänse, die Krähen oder Elstern.

Als Hauptgrund für den Rückgang sieht Berthold die intensive Landwirtschaft mit ihrer monotonen Ackerstruktur und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Meist seien es nicht die Pestizide direkt, die Insekten und in der Folge die Vögel töteten. Dies bewirkten lediglich Neonicotinoide und natürlich Insektizide, die nicht nur Schädlinge, sondern viele andere Arten auslöschten. Nein, das größere Problem sei, dass durch die Pflanzenschutzmittel alle Unkräuter aus den Äckern verschwunden seien – und damit die Wirtspflanzen vieler Insekten und die Nahrung vieler Vögel.

Für Berthold ist der Mensch mittlerweile ein „Homo horribilis“

Er hat ausgerechnet, dass noch vor 60 Jahren auf den Weizenfeldern in Deutschland rund eine Million Tonnen an Sämereien für die Vögel wuchsen, allein durch die Unkräuter: „Heute ist es fast null“, so Berthold. Er ist deshalb ein Ornithologe, der längst die Ganzjahresfütterung der Vögel im heimischen Garten propagiert. Durch die fehlenden Insekten würden zudem viele Vögel ihre Jungen nicht mehr groß bekommen – denn auch Vögel, die sich hauptsächlich von Körnern ernährten, bräuchten für die Aufzucht Insekten.

Berthold war immer ein Mann der klaren Worte; das hat ihm viel Ärger eingebracht, aber auch den Ehrentitel „Vogelpapst“. Den Menschen nennt er gerne Homo horribilis, weil der viel Unheil anrichtet. Und die Zukunft für die Vögel fasst Berthold in die Worte: „In Deutschland müssten schon einige mittlere Katastrophen passieren, damit ein Umdenken stattfindet – zum Beispiel, dass einige Kulturpflanzen nicht mehr von Insekten bestäubt würden.“ Ansonsten sieht er schwarz für die Natur. Das Auerhuhn im Schwarzwald etwa hat er schon aufgegeben – das werde bei uns verschwinden, weil sich kaum jemand an die vereinbarten Schutzkonzepte halte.

Als junger Mann hatte Berthold Hoffnung – und eine Vision. In den 1980er Jahren hatte er sogar den Kanzler Helmut Kohl zu einem persönlichen Gespräch bewegen können. Bertholds Idee: Wenn jede Gemeinde per Gesetz eine Fläche, die für die Landwirtschaft zu feucht oder zu trocken ist und deshalb kein Bauer will, in ein Biotop umwidmen müsste, entstünden 13 000 geschützte Flächen – ein Biotopverbund durch ganz Deutschland. Kohl sei offen und der damalige Umweltminister Klaus Töpfer sogar begeistert gewesen, erzählt Berthold; aber der Agrarminister Ignatz Kiechle habe nichts davon wissen wollen.

Pflanzenschutzmittel sollten ganz verboten werden

Der Biotopverbund Bodensee, von dem am Anfang die Rede war, ist nun die Verwirklichung von Bertholds Traum im Kleinen. Zudem erhält er durch sein jüngstes, sehr erfolgreiches Buch „Unsere Vögel“ so viele Anfragen und Flächenangebote aus ganz Deutschland, dass die Sielmann-Stiftung eine Mitarbeiterin anstellen musste, um diese zu bearbeiten. Peter Berthold mag pessimistisch gestimmt sein, aber er tut mehr, als ein Mensch leisten kann, um sich gegen das Artensterben zu stemmen.

Eigentlich, sagt Peter Berthold und schaut wieder angestrengt auf den Sielmann-Weiher hinaus, müsste man alle Pflanzenschutzmittel verbieten. Das Argument, dass man dann die Weltbevölkerung nicht mehr ernähren könne, sei schlicht Schwachsinn. Sicher würde es Ertragseinbußen von rund 30 Prozent geben; aber laut einer WWF-Studie werden allein in Deutschland jährlich 18,7 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Wenn man das in den Griff bekäme, etwa indem man im Wirtshaus fünf verschieden große Portionen einer Mahlzeit anbieten würde, sei der Ernterückgang kein Problem. Eine schöne Vision: Ohne Pestizide könnten die Unkräuter wieder blühen, die Vögel würden zurückkehren – wie der Teichrohrsänger und der Eisvogel an den Heinz-Sielmann-Weiher.