Mit einer fulminanten Rede will Navid Kermani, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, den Westen wachrütteln. Und erzählt, wie in Syrien Muslime und Christen sich doch noch helfen.

Frankfurt/Main - Nach dem letzten Satz von Navid Kermanis Rede regt sich am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche zunächst keine Hand zum Applaus. Es herrscht einfach nur Stille. Die fast 1000 Gäste stehen auf Wunsch des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels auf und verharren an ihren Plätzen. Er bittet sie zum Gebet oder - falls sie nicht religiös sind - um gute Wünsche. Es geht um das Schicksal von 200 vom Islamischen Staat entführten Christen in der syrischen Kleinstadt Karjatain, die Kermani gut kennt.

 

Mit seiner ungewöhnlichen Geste hat der Kölner Schriftsteller mit iranischen Wurzeln erneut bewiesen, dass er wie kein anderer muslimischer Intellektueller in Deutschland Brücken zwischen Religionen und Kulturen bauen kann. Doch seine Danksagung für den renommierten Kulturpreis ist keine Huldigung an die inneren Werte des Islam oder des Christentums, wie sie der tief religiöse Kermani in seinen Werken oft auch beschrieben hat.

Es ist vielmehr eine aufrüttelnde Anklage der Zustände in der heutigen islamischen Welt - und ein sehr emotionaler Appell an den Westen, den Krieg in Syrien endlich zu beenden. Der multiethnische und multikulturelle Orient des Mittelalters mit einem toleranten Volksislam existiere nicht mehr, sagt Kermani. Er hat selbst die Region oft bereist. „Es gibt keine islamische Kultur mehr.“ Der Autor greift vor allem Saudi-Arabien an, dass dank seiner Öl-Milliarden auch den religiösen Fundamentalismus weltweit exportiere.

Abrechnung mit dem Westen

Die Rede ist auch eine Abrechnung mit dem Westen, der durch den Aufbau von laizistischen Diktaturen in der arabischen Welt nach dem Ende der Kolonialisierung und durch die jüngsten desaströsen Kriege im Irak und Libyen für die Zerstörung der Region mitverantwortlich sei. Zugleich wurde Saudi-Arabien zum wichtigsten Verbündeten in der Region gemacht. Vier Jahre lange habe der Westen „vor der europäischen Haustür“ bei den Massenmorden in Syrien und dem Irak einfach weggeschaut.

Die barbarische Terrormiliz des IS mit ihren maximal 30 000 Kämpfern sei nicht unbesiegbar, sagt Kermani. Zugleich macht er auch das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gleichermaßen für Krieg und Terror verantwortlich.

Zu mehr Engagement oder einer Intervention des Westens gibt es für Kermani keine Alternative. „Wir lernen nicht aus unseren Fehlern“, sagt der Autor, der aus einer 1959 eingewanderten iranischen Arztfamilie stammt und in Siegen geboren ist. „Erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen.“

Entschlosseneres diplomatisches Handeln gefordert

Aber darf ausgerechnet ein Friedenspreisträger, der zudem noch als großer Poet und Versöhner gilt, zum Krieg aufrufen? Das fragt sich auch Kermani selbst in seiner Rede. Er gibt als Antwort, dass neben möglichen militärischen Schritten vor allem entschlosseneres diplomatisches Handeln gefragt sei.

Der tragische Held in der fulminanten Rede ist Pater Jacques Mourad, der die katholische Gemeinde in Karjatain geleitet und sich immer auch als Teil der arabischen Kultur verstanden hat. Am 21. Mai dieses Jahres wird der Kermani bekannte Priester vom IS entführt. Es ist ausgerechnet der Tag, als Kermani erfährt, dass er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält.

Doch Kermani macht in seiner Rede zumindest ein wenig Hoffnung. Der Pater ist vor wenigen Tagen wieder freigekommen - offensichtlich mit Unterstützung von Muslimen, die ihm zur Flucht aus seiner Zelle verholfen haben. Er wurde verkleidet und mit Hilfe von Beduinen aus dem Gebiet des IS gebracht.

„Jeder einzelne von ihnen hat sein Leben für einen christlichen Priester riskiert“, stellt Kermani mit Stolz fest. Doch die große Sorge bleibt. Das Leben der rund 200 Gemeindemitglieder von Pater Jacques, die weiterhin in der Gewalt der Terrormiliz sind, gilt als gefährdeter denn je.