Mit Hochdruck werden in Hamburg die neuen Ermittlungen zum Nazi-Massaker von Sant Anna geführt. In Stuttgart ist damit auch Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) blamiert, der die Nicht-Anklage seiner Staatsanwälte rundum abgesegnet hatte.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Akten aus Stuttgart sind inzwischen in Hamburg eingetroffen. Neun Umzugskartons haben die württembergischen Staatsanwälte gefüllt, durch die sich nun ihre hanseatischen Kollegen arbeiten müssen. Auf die bisherigen Ermittlungen zum Nazi-Massaker von Sant Anna können sie zwar aufbauen, wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hamburg der Stuttgarter Zeitung sagte. Gleichwohl müssten sie eine „eigenverantwortliche rechtliche Bewertung” vornehmen und eventuell zusätzliche Ermittlungen durchführen. Wie lange das dauern werde, sei nicht abzuschätzen. Aber das Verfahren werde wegen des Alters des mutmaßlichen Täters – der einstige Kompanieführer Gerhard S. ist 93 – mit „hoher Priorität” betrieben: Zwei Oberstaatsanwälte seien eigens dafür freigestellt worden.

 

Unter hohem Zeitdruck wird nun in Hamburg korrigiert, was in Stuttgart ganz gemächlich schiefgelaufen war. Zehn Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft unter dem inzwischen pensionierten Abteilungsleiter Bernhard Häußler angeblich äußerst gründlich ermittelt, um dann doch zu einem unhaltbaren Ergebnis zu kommen: Nach dem Massaker von 1944 in den toskanischen Bergen könne gegen niemanden mehr Anklage erhoben werden. Die Begründung, grob zusammengefasst: eine Verurteilung sei nicht hinreichend wahrscheinlich, es fehle an einem individuellen Schuldnachweis, und überhaupt könne alles auch ganz anders gewesen sein – das Gemetzel mit etwa 500 Toten sei womöglich nicht geplant gewesen, sondern habe sich einfach so ergeben.

Eine Ohrfeige für die Staatsanwälte

Dabei wäre es wohl geblieben, hätte nicht die Anwältin eines der Überlebenden, Gabriele Heinecke aus Hamburg, hartnäckig weiter für eine Anklage gefochten. Klageerzwingungsverfahren gelten zwar als nahezu aussichtslos, doch Anfang August hatte sie damit vor dem Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe überraschend Erfolg: Entgegen der Ansicht von Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart, entschied der zuständige Strafsenat, bestehe im Falle von Gerhard S. „genügender Anlass zur Anklageerhebung”. Es bestehe ein hinreichender Tatverdacht, die Verurteilung von Mord oder Beihilfe dazu sei wahrscheinlich. Nur weil S. außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs in Hamburg lebt, ordneten die OLG-Richter nicht gleich die Erhebung der Anklage an, sondern verwiesen das wieder aufzunehmende Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg.

Nicht nur für Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft war das eine Ohrfeige, sondern auch für Justizminister Rainer Stickelberger (SPD). Er hatte die 150-seitige Einstellungsverfügung geprüft – und mit bedauernden Worten rundum bestätigt. Eine Anklageerhebung, so sein kühnes Fazit, wäre sogar „rechtswidrig“ gewesen. Noch vier Wochen vor dem OLG-Urteil verteidigte Stickelberger die Ermittler in einem Brief an die Stuttgarter Anstifter-Initiative Sant Anna: Man habe „nichts unversucht gelassen” und schon gar nichts „verschleppt”, aber das deutsche Recht habe eben Grenzen. Sein Fazit: der Vorwurf, die baden-württembergische Justiz habe versagt, sei „nicht berechtigt”.

Krude Argumente einfach übernommen

Die OLG-Entscheidung wirft nun freilich die Frage auf, ob nicht auch Stickelberger versagt hat. Eins zu eins hatte er die teilweise krude Argumentation der Staatsanwaltschaft übernommen, die nun von den Karlsruher Richtern zerpflückt wird. Ihre Argumentation, stark vereinfacht: die Hürden für eine Erhebung der Anklage hätten die Ermittler höher gelegt, als es ihnen zustehe. Eine individuelle Verantwortung des Kompanieführers bestehe sehr wohl – das habe schon das (in Stuttgart stets eifrig relativierte) Urteil eines italienischen Militärgerichts gut herausgearbeitet. Konstruiert und überzogen erschienen dem OLG die Überlegungen von Oberstaatsanwalt Häußler zur Entlastung des Beschuldigten: Für die These, das Massaker habe sich zufällig ergeben, gebe es keine greifbaren Anhaltspunkte. Solche Zweifel zu beurteilen sei zudem Sache eines Gerichts, nicht der Staatsanwälte.

Hätten all das nicht auch Stickelberger und sein Ministerium erkennen können, ja müssen? Inhaltlich kommt von dem SPD-Mann dazu seit Monaten nichts mehr. Erst war es der „Respekt vor der Unabhängigkeit der Gerichte”, der ihm eine Stellungnahme verbiete, nun ist es die Zuständigkeit „der Justizbehörden eines anderen Bundeslandes“. Im Rahmen der Dienstaufsicht, teilte er jetzt auch der Sant-Anna-Initiative mit, würden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft „allein auf Vertretbarkeit geprüft”. Eine „umfassende juristische Überprüfung” bleibe den hierfür vorgesehen Instanzen, eben dem OLG, vorbehalten. Dass die juristische Aufarbeitung nun weitergehe, so Stickelberger, sei jedenfalls „zweifelsohne zu begrüßen”.

Symbolischer Appell zum Ausmisten

Von Konsequenzen für die Stuttgarter Staatsanwälte, die genau das fast verhindert hätten, ist bei ihm keine Rede. Als die Sant-Anna-Initiative kürzlich erneut zur Mahnwache vor dem Ministerium erschien, hatte der Chef – mal wieder – keine Zeit. Nur ein Mitarbeiter nahm die Resolution mit dem Appell entgegen: „Herr Stickelberger, räumen Sie auf in der Staatsanwaltschaft Stuttgart.” Die als Geschenk samt Schleife verpackte Mistgabel, die ihn symbolisch zum Ausmisten anspornen sollte, blieb vor der Tür stehen.