Vor 50 Jahren hat er den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann zur Strecke gebracht: Erinnerung an den Stuttgarter Juristen Fritz Bauer.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Laut Obduktionsbericht hatte der renommierteste Naziankläger der Republik zum Todeszeitpunkt 1,1 Promille Alkohol im Blut und fünf Schlaftabletten im Bauch. "Keine Anzeichen von Ertrinken, Hände gefaltet, Beine angewinkelt", notiert der Gerichtsmediziner.

 

Sein letztes Lebenszeichen hinterlässt Fritz Bauer am 29. Juni 1968. An der Universität Karlsruhe hält er einen Vortrag zum Thema: Wie können die Deutschen ihre Vergangenheit verarbeiten? Etwa 50 Menschen sind im Saal, überwiegend Studenten, aber auch Christof Müller-Wirth. Der Verleger juristischer Fachliteratur ist dem Staatsanwalt Bauer mehrfach begegnet. Nach der Veranstaltung lädt er ihn zu einem Gespräch ins Café des Schlosshotels ein. Es wird ein kurzweiliger Abend.

Bauer erzählt, wie er zur Ergreifung des NS-Schwerverbrechers Adolf Eichmann beigetragen hat. Er berichtet, dass er den Leiter von Hitlers Euthanasie-Zentrale, Werner Heyde, im Gefängnis besucht habe, und der skrupellose Mediziner keinerlei Reue gezeigt habe. Bauer erwähnt Drohanrufe, die er regelmäßig bekomme: "Judenschwein, verrecke!", bellten Unbekannte ins Telefon. "Das muss ich hinnehmen", sagt er, "sonst könnte ich ja gleich aufgeben." Als letzte Gäste verlassen die beiden Männer weit nach Mitternacht das Lokal. Christof Müller-Wirth reicht Fritz Bauer die Hand; er kann in diesem Moment nicht ahnen, dass es ein Abschied für immer ist.

Ein kettenrauchender Linksintellektueller

Fritz Bauers Leben beginnt am 16. Juli 1903 in Stuttgart. Sein Vater ist der jüdische Kaufmann Ludwig Bauer. Seine Mutter Ella Bauer, geborene Hirsch, stammt aus Tübingen; der Hegel-Hölderlin-Geist der Universitätsstadt inspiriert Fritz Bauer stark, wie er später schreibt: "Wenn ich in mich horchte, rückwärts schaute, stets standen Tübingen, der betriebsame Markt mit Duft und Lärm, die idyllische Stille der Alleen, der Humanismus der Aula vor mir." Sein Alltag spielt sich jedoch in Stuttgart ab. Der Vater hat einen Textilladen in der Seestraße, die geräumige Mietwohnung der Familie liegt unterhalb des Killesbergs in der Wiederholdstraße. Ein gutbürgerliches Milieu.

Fritz Bauer ist ein exzellenter Schüler, in seinem Abiturzeugnis des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums steht unter der Rubrik "künftiger Beruf": Rechts- und Staatswissenschaft. Am 9. Dezember 1924 legt der Jurastudent Bauer an der Tübinger Eberhard-Karls-Universität das erste Staatsexamen ab; ein Jahr später erhält er seine Promotionsurkunde. Er entscheidet sich "zu Gunsten einer strafrichterlichen und politisch aktiven Betätigung" gegen eine akademische Karriere.

Im April 1930 wird Dr. jur. Fritz Bauer zu Deutschlands jüngstem Amtsrichter ernannt. Er tritt dem demokratisch gesinnten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der SPD bei, hält im Club der Jungsozialisten Reden und trifft sich regelmäßig im Schlossgartencafé mit Kurt Schumacher, dem politischen Redakteur der "Schwäbischen Tagwacht" und späteren SPD-Vorsitzenden. Der Richter Fritz Bauer ist ein kettenrauchender Linksintellektueller.


Als Hitler die Macht im Staate übernimmt, will Bauer gemeinsam mit Kurt Schumacher und dem Reichsbanner-Leiter Wilhelm Wirthle einen Generalstreik organisieren. Das Trio wird verpfiffen. "Nach einer Mitteilung, die vom Polizeipräsidium bestätigt wird, ist am Donnerstag der Stuttgarter Amtsrichter Dr. Bauer in Schutzhaft genommen worden." So berichtet die "Feuerbacher Zeitung" am 24. März 1933. Fritz Bauer wird auf die Schwäbische Alb verfrachtet und im Konzentrationslager Heuberg weggesperrt. Nach acht Monaten kommt er frei, doch als Jurist kann er in Deutschland nicht mehr arbeiten. Noch einige Zeit harrt Bauer in Stuttgart aus, erlebt mit, wie die Judenverfolgung zunimmt. Schließlich flieht er ins dänische Exil.

Nach dem Krieg klagt Bauer in einem Brief an Kurt Schumacher über sein "schwäbisches Heimweh". 1949 holt der SPD-Parteivorsitzende seinen Genossen nach Deutschland zurück, allerdings nicht nach Stuttgart oder Tübingen, sondern nach Braunschweig. Fritz Bauer wird Generalstaatsanwalt, sein einsamer Kampf gegen die Ewiggestrigen beginnt.

Der Ludwigsburger Karl Moersch, 85, ist ein Zeuge dieser Zeit. Moersch und Bauer sind sich niemals begegnet. Dennoch verbindet die beiden eine Geschichte: Unter der Überschrift "Zentrale Ermittlung" erscheint am 17. September 1958 in der liberalen Zeitschrift "Die Gegenwart" ein zweiseitiges Essay. Darin greift der Autor, Jungredakteur Moersch, die Forderung des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer nach einer deutschen Behörde auf, die in aller Welt Daten und Fakten über Nazitäter sammelt und Ermittlungen einleitet. Der württembergische Justizminister Wolfgang Haussmann (FDP) liest den Artikel und handelt: Am 1. Dezember 1958 nimmt die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. "Ihr geistiger Vater ist Fritz Bauer", sagt Moersch.

"In der Justiz lebe ich wie im Exil"

Fritz Bauer ist ein Moralist mit Robe, Ethik ist für ihn wichtiger als Gesetze. In seinem Plädoyer gegen den Ex-Generalmajor Otto Ernst Remer, der die Widerstandskämpfer gegen Hitler des Hochverrats bezichtigt hat, erklärt er 1952: "Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig." Remer wird wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt - ein Sonderfall in der Nachkriegsrechtsprechung. Die "Süddeutsche Zeitung" erkennt in Bauer ein "rares schöpferisches Element in unserer Gesellschaft".

Es ist die Zeit, als Hans Globke das Bundeskanzleramt leitet, ein Mann, der als Kommentator der Nürnberger Rassegesetze die nationalsozialistische Menschenvernichtungsmaschine befeuert hatte. Es ist die Zeit, als der ehemalige Marinerichter Hans Filbinger ungehindert zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten aufsteigen kann. Es ist die Zeit, in der die allermeisten Gerichte den Eid auf Hitler als Entschuldigung für zurückliegende Schandtaten gelten lassen. "Befehlsnotstand" lautet das Zauberwort, dem regelmäßig ein Freispruch folgt. Kaum jemand muss befürchten, sich für braune Flecken im Lebenslauf verantworten zu müssen.

In diesem Umfeld steht Fritz Bauer mit seinem unbändigen Willen, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen. "In der Justiz lebe ich wie im Exil", sagt er. Und: "Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland." Zwei Jungfaschisten wollen ihn ermorden, ihr Plan fliegt auf. Fritz Bauer schafft sich eine Pistole an.


1956 wird der hartnäckige Naziverfolger vom hessischen SPD-Ministerpräsidenten Georg August Zinn nach Frankfurt berufen. September '57 erhält Bauer einen Brief aus Argentinien. Absender ist Lothar Hermann, ein deutscher Jude, der im KZ Dachau inhaftiert und später nach Südamerika emigriert war. Hermann schreibt, er habe Adolf Eichmann in Buenos Aires identifiziert, jenen Hitler-Schergen, der im Dritten Reich für die Judenvernichtung zuständig war. Er traue der deutschen Botschaft nicht, zu offensichtlich schütze sie die geflohenen Altnazis. Hermann nennt den Aufenthaltsort des Kriegsverbrechers: Calle Chacabuco Nr.4261, Olivos, Destrikt Vincente Lopes.

Der Generalstaatsanwalt Bauer missachtet den Dienstweg. Er lässt das Auswärtige Amt, die Bundespolizei und die deutsche Justiz außen vor; lediglich den hessischen Ministerpräsidenten Zinn weiht er ein. Zu groß ist die Gefahr, dass Eichmann von früheren SS-Kameraden gewarnt wird. Bauer sieht nur einen Weg, wie er den Cheforganisator des Holocaust zur Strecke bringen kann: Er reist nach Israel und informiert den Geheimdienst Mossad.

Heute weiß man, dass Fritz Bauer die Situation richtig eingeschätzt hat. Dokumente, die bis 2006 verschlossen im amerikanischen Nationalarchiv lagen, belegen, dass der Bundesnachrichtendienst und die CIA Adolf Eichmanns Aufenthaltsort kannten - und nichts unternahmen. Eine antikommunistische Abwehrfront war den westlichen Verbündeten im Kalten Krieg wichtiger als die Ergreifung eines faschistischen Massenmörders.

Bauer initiiert den Auschwitz-Prozess

Zwei Jahre lang wird Eichmann von israelischen Agenten beschattet. Unter einem Pseudonym arbeitet der ehemalige Juden-Endlöser bei Mercedes-Benz in Buenos Aires. In einem Vorort hat er ein Haus nach eigenen Plänen errichtet, seine Frau und seine Kinder zu sich geholt. Er lebt unbehelligt - bis ihn der Mossad überwältigt, als er gerade in einen Bus steigen will. Eichmann wird aus Argentinien verschleppt und in Israel vor Gericht stellt.

Es ist das erste Verfahren gegen einen NS-Täter, bei dem die Opfer im Mittelpunkt stehen. Männer und Frauen, denen bis dahin niemand Beachtung geschenkt hat, berichten der Welt, wie sie unter menschenunwürdigen Bedingungen überlebten, nicht selten als die einzigen Angehörigen ihrer Familien. Schließlich wird Eichmann in Jerusalem gehängt. Ausgerechnet Fritz Bauer, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, hat ihn an den Strang geliefert.

Konsequent ignoriert der hessische Generalstaatsanwalt den in der Bundesrepublik weit verbreiteten Wunsch, die alten Geschichten endlich ruhen zu lassen. Bauer initiiert den Auschwitz-Prozess: 20 Angeklagte, 21 Nebenkläger, 356 Zeugen. Als nach 182 Verhandlungstagen am 20. August1965 am Frankfurter Schwurgericht das Urteil verkündet wird - lebenslängliche Zuchthausstrafen sowie Freiheitsstrafen zwischen 13 und 14 Jahren -, hat Bauer den Opfern späte Gerechtigkeit verschafft und sich selbst noch mehr braune Feinde.


In jenen Tagen freundet sich der Schauspielschüler Wolfgang Kaven mit dem Rechtsgelehrten Fritz Bauer an. Die beiden ungleichen Männer wohnen Tür an Tür, Feldbergstraße 44 und 46, direkt gegenüber dem Frankfurter Palmengarten. Bauer spricht über sein geistiges Vorbild Schiller, den zornigen schwäbischen Dichter, und der junge Kaven taucht dankbar in die humanistische Gedankenwelt seines Nachbarn ein. Als Kaven am Stadttheater in Gießen die erste große Rolle spielt, den Jesuitenpater Riccardo Fontana in Hochhuths Holocaust-Drama "Der Stellvertreter", sitzt Bauer im Publikum.

Nun ist Wolfgang Kaven 71. Er lebt mit seiner Frau und zwei Mischlingshunden in einem Dorf im Wendland und sagt: "Ich bin froh, dass ich Fritz Bauer kennenlernen durfte." Sein großer Intellekt, sein aufbrausendes Temperament, seine Skepsis gegenüber Autoritäten - "all das habe ich bewundert". Was wäre, wenn Bauer heute leben würde? Kaven lacht: "Ein Freund von Mappus und Konsorten wäre er jedenfalls nicht." Bauers Vermächtnis? "Sein Kampf gegen den Faschismus war beispiellos, er hat sich aber auch als einer der Ersten für die Resozialisierung von Häftlingen eingesetzt. Einen Juristen wie diesen wird es in diesem Land nicht mehr geben."

Christof Müller-Wirth sitzt im Wohnzimmer seiner Karlsruher Altbauwohnung. Vom Sofa aus blickt er, wie man das bei einem früheren Verleger erwartet, auf Tausende Buchrücken. Wie war das damals, in der Nacht zum 30. Juni 1968? "Fritz Bauer hat an diesem Abend wie immer sehr viel geraucht, filterlose Roth-Händle, aber kaum Alkohol getrunken", erzählt Müller-Wirth. "Er wirkte weder müde noch krank. Ich ärgere mich, dass ich ihn beim Abschied nicht gefragt habe, wie er zurück nach Frankfurt kommt." Alles, was in den folgenden Stunden geschah, liegt im Dunkeln.

Vermutlich Suizid oder ein Unglücksfall

Man findet Bauers Leichnam am Morgen des 1. Juli 1968 in der Badewanne seiner Privatwohnung im Frankfurter Westend. Der Gerichtsmediziner notiert "Todeszeit Nacht 29./30.6.1968 (Samstag auf Sonntag). Mageninhalt lässt auf Einnahme von 5 Tabletten Revonal schließen (Einschlafmittel). Keine motorische Erregung oder Krämpfe, was eigentlich Revonal verursacht". Trotz dieses offensichtlichen Widerspruchs lautet das Ergebnis der Autopsie: vermutlich Suizid oder ein Unglücksfall.

Fritz Bauers Wohnung wird komplett ausgeräumt. Die Polizei geht vagen Hinweisen nach und recherchiert im Frankfurter Schwulenmilieu. Ohne Erkenntnis. Niemand kommt auf den Gedanken, Christof Müller-Wirth zu befragen, jenen Zeugen, der Fritz Bauer vermutlich zum letzten Mal lebend gesehen hat.

Posthum gibt Müller-Wirth einen Aufsatz von Fritz Bauer heraus: "Im Kampf um des Menschen Rechte". Darin berichtet Bauer, wie er bereits als Kind in Stuttgart von seinen Mitschülern diskriminiert wurde: "Du und deine Eltern, Ihr habt Jesu umgebracht." Er beleuchtet die Gesellschaft ("Die Industrialisierung unserer Zeit schafft ein Netz von Abhängigkeiten, in dem wir oft vergeblich nach Luft schnappen") und seine eigene Rolle: "Der Jurist weiß, daß jedes Gesetz unvermeidbar Lücken hat, er muß sie schließen. Seine schöpferische Entscheidung ist notwendig von seinem Rechtsgefühl diktiert, das einmalig wie alles Menschliche ist, sie ist undenkbar ohne sein Bild von Staat und Einzelnen, von Freiheit und Gleichheit, Krieg und Frieden. Der Jurist, der dies leugnet, sich etwa einbildet, seine Urteile seien frei von diesen Erdenresten unvermeidlicher Subjektivität, betrügt sich selbst und andere." Die Abhandlung endet mit dem Satz: "Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, daß sie nicht zur Hölle wird."

Millionen solcher weisen Worte hat Fritz Bauer hinterlassen. "Wäre ich noch Verleger", sagt der Privatier Christof Müller-Wirth heute, "würde ich eine Gesamtausgabe herausbringen."

In Stuttgart-Sillenbuch ist im vergangenen Jahr die Treitschkestraße in Fritz-Bauer-Straße umbenannt worden. Heinrich von Treitschke gilt als ein Vordenker des Antisemitismus. Laut einer Umfrage hätten 80 Prozent der Anwohner lieber den alten Straßennamen behalten.

Buchtipp: Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903 - 1968. Eine Biografie. Verlag C.H. Beck, München 2009. 640 Seiten, 34 Euro.