Euphorie um Basketball-Profi Jeremy Lin: Er führt die New York Knicks von Sieg zu Sieg und hat dabei keine Angst vor großen Namen.  

New York - Diese Szene hat viel ausgesagt über das Spiel am Sonntag im New Yorker Madison Square Garden. Es waren noch sieben Minuten auf der Uhr in der Partie der New York Knicks gegen die Dallas Mavericks, als Dirk Nowitzki sich mit der ganzen Wucht seiner 2,13 Meter an der Dreipunktelinie aufbaute, um den Ansturm der New Yorker Basketballer zu stoppen. New Yorks Jeremy Lin sah kein Vorbeikommen, doch aufhalten ließ er sich trotzdem nicht. Und so lupfte er einfach frech den Ball über den Kopf des Deutschen - und warf einen Dreier.

 

Der Garden, ohnehin seit Wochen im Jeremy-Lin-Fieber, kochte über vor Euphorie. Die Banner mit Lin-Sprüchen flatterten von den Rängen rund um die Arena, der Hollywoodregisseur Spike Lee sprang von seinem Sitz auf und zeigte stolz sein Lin-Trikot, das er an diesem Tag angelegt hatte, in die Kameras. Fans mit Lin-Masken begannen auf der Tribüne zu tanzen.

Lin gilt als Heiland der Mannschaft

Der, dem so gehuldigt wurde, war der 23 Jahre alte neue Superstar der Knicks, ein Spieler, dessen Name noch drei Wochen zuvor kein Mensch kannte. Jetzt schaltete er mit Frechheit und einem schier unglaublichen Lauf schon zum zweiten Mal in einer Woche vor dem Heimpublikum einen Superstar aus. Auch die 34 Punkte von Nowitzki nutzten den Mavericks nichts gegen diesen Lin, der es auf 28 Punkte und 14 Assists brachte, und so gewannen die Knicks überlegen mit 104:97. Erst eine Woche zuvor hatte Lin mit 38 Punkten Kobe Bryants Lakers aus dem Garden gefegt.

Spätestens seit der Lakers-Partie gilt Lin in New York als Heiland einer Mannschaft, die seit mehr als zehn Jahren von einem Desaster in das nächste stolpert. Seit Lin in die Startaufstellung genommen wurde, haben die Knicks nur einmal verloren. Lin wirft im Durchschnitt 25 Punkte und bringt neun Assists - mehr als jeder andere Spieler der Liga im gleichen Zeitraum. Seit Lin da ist, wird hinter vorgehaltener Hand in New York erstmals seit der Ära von Pat Ewing sogar wieder von der Meisterschaft geredet.

Die Liebesaffäre zwischen New York und dem Sohn taiwanesischer Einwanderer begann zur Jahreswende 2012. Gleich zwei andere NBA-Mannschaften - die Houston Rockets und die Golden State Warriors - hatten den Ersatzspieler abgestoßen, um Mittel für vermeintlich wichtigere Akteure freizumachen. Knicks-Coach Mike D'Antoni nahm ihn mit, um auf der in New York schwach besetzten Point-Guard-Position eine weitere Option zu haben.

"Dieser Typ ist das wahre Ding"

Schließlich war Lin nicht teuer - 800.000 Dollar mussten sie für ihn bezahlen, bei Lohnausgaben von 61 Millionen im Jahr ein Taschengeld. Lin packte seine Sachen und zog zu seinem Bruder nach Manhattan, wo er bis heute auf der Couch schläft. Sein erster Einsatz kam am 4. Februar, als alle drei Point Guards, die in der Aufstellung vor ihm lagen, verletzt oder außer Form waren. Es war, wie Coach D'Antoni heute zugibt, ein Verzweiflungsakt.

D'Antoni hat es nicht bereut. Mit den folgenden vier Spielen legte Lin eine Serie hin, wie die Liga sie von einem Neuling seit 1976 nicht mehr gesehen hat. Die Kommentatoren überschlagen sich mit Lob, er wird bereits mit Legenden wie Michael Jordan und Larry Bird verglichen. Der ehemalige Superstar Charles Barkley konnte sich bei seiner Moderation des Lakers-Spiels vor Erstaunen gar nicht mehr einkriegen: "Dieser Typ ist das wahre Ding, das wahre Ding", sagte er immer wieder.

In New York ist eine wahrhafte Lin-Manie ausgebrochen. Jeremy Lin Trikots sind in den Sportgeschäften zur Mangelware geworden, die Zulieferer können die Nachfrage nicht mehr befriedigen. Die Fans tragen zu den Spielen Jeremy-Lin-Masken und das Wort von der "Linsanity", vom "Lin-Wahnsinn", macht in New York die Runde. Die Euphorie ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil die Knicks sich vor dem unverhofften Auftauchen von Lin wieder einmal auf eine deprimierende Saison eingestellt hatten.

Keine Basketballuniversität wollte ihn haben

Seit drei Jahren versucht Mike D'Antoni die dysfunktionale Truppe zu einem wettbewerbsfähigen Team umzubauen. In diesem Jahr, so schien es, hatte er endlich mit Carmelo Anthony, Tyson Chandler und Amare Stoudemire das Personal dafür zusammen. Doch es lief nicht rund. Die Knicks starteten mit einer dürftigen 8:14-Bilanz in das Jahr. Was für D'Antonis temporeiches System fehlte, war ein spritziger, cleverer Point Guard, der auch noch schießen kann. So einer wie Steve Nash, der D'Antonis vorheriges Team, die Phoenix Suns, zu Erfolgen führte. Doch so einer war weit und breit nicht in Sicht - bis Lin kam.

Dass er sich so entwickeln würde, damit hatte niemand gerechnet - nicht D'Antoni und schon gar nicht Lin selbst. Nun fragen sich alle, unter denen Lin gespielt hatte, wie sie sein Talent übersehen konnten. Nach der Highschool wollte ihn keine der großen Basketballuniversitäten haben. Er landete in Harvard - eher für akademische als für sportliche Exzellenz bekannt. Als D'Antoni ihn zum ersten Mal sah, erinnert er sich, fand er ihn "nicht besonders aufregend". Das hat sich geändert.