Dem EU-Kommissar reißt der Geduldsfaden, hohe Strafzahlungen sind nun möglich.

Stuttgart - Die EU verklagt Deutschland wegen der schlechten Luft in Städten wie Berlin, München, Hamburg, Köln und Stuttgart am Europäischen Gerichtshof. EU-Umweltkommissar Karmenu Vella machte am Donnerstag deutlich, dass die Geduld der Kommission auch mit fünf anderen Ländern zu Ende sei: „Die angeklagten Mitgliedstaaten haben in den zurückliegenden zehn Jahren genügend letzte Chancen erhalten, um die Situation zu verbessern.“ Verklagt werden neben Deutschland wegen zu hoher Stickstoffdioxidwerte Frankreich und Großbritannien, wegen zu hoher Feinstaubwerte Ungarn, Italien und Rumänien.

 

Die EU-Kommission wirft Deutschland vor, zu wenig gegen die zu hohe Belastung der Luft mit Stickstoffdioxid getan zu haben. Sie moniert Überschreitungen in 26 Luftqualitätsgebieten, auch Reutlingen ist dabei. Die für 2016 gemeldeten Jahreskonzentrationen beliefen sich in Stuttgart bis zum Doppelten des Grenzwertes. Vor allem ältere Dieselfahrzeuge werden dafür verantwortlich gemacht. Vella unterstrich die Notwendigkeit zu handeln: „Jedes Jahr sterben 100 000 Menschen EU-weit vorzeitig an Krankheiten, die auf die Luftverschmutzung zurückzuführen sind.“

Gericht lässt Fahrverbot zu

Nach einem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts sind zur Luftreinhaltung straßenweise wie zonale Fahrverbote geboten, wenn nur dadurch die Grenzwerte schnellstmöglich eingehalten werden können. Das ausführliche Urteil wird in diesen Tagen erwartet. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) erwägt, Fahrverbote für Diesel bis einschließlich Euronorm 5 ab dem 1. September 2019 für ganz Stuttgart auszusprechen.

Die Kommission hatte wiederholt mit der Klage gedroht. Zuletzt hatte sie die damals geschäftsführende Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zum Rapport geladen und rasch wirksame Maßnahmen verlangt. Es kamen Überlegungen für einen kostenlosen Nahverkehr. Sie überzeugten nicht. Für Tschechien, die Slowakei und Spanien kam die Kommission dagegen zum Schluss, dass die Maßnahmen ausreichen.

Jahrelanges Verfahren

Das Verfahren kann Jahre dauern, es könnten hohe Strafzahlungen fällig werden. Zustimmung bekommt die Kommission vom Umweltexperten der SPD im Europaparlament, Tiemo Wölken: „Seit Jahren sind CSU-Verkehrsminister am Steuer, die das Problem der schlechten Luft klein geredet oder ignoriert haben.“ Der Bund für Umwelt- und Naturschutz fordert Fahrverbote und für Stuttgart eine Nahverkehrsabgabe, die Autofahrer als Subvention von Bussen und Bahnen zahlen müssten. Sie wird von der CDU im Landtag (er ist für die Gesetzgebung zuständig) abgelehnt.

Am Donnerstag wurde bekannt, dass die EU Zweifel an den Messverfahren und der Auswahl der Messpunkte zur Überwachung der Luft hat. Sie hat eine Überprüfung der gesetzlichen Grundlagen eingeleitet. Dies geht aus der Antwort von Vella auf eine Anfrage des Europaabgeordneten Norbert Lins (CDU, Ravensburg) hervor, die unserer Zeitung vorliegt. Darin heißt es: Die Kommission erkenne an, „dass diese Kriterien in einigen Fällen im Hinblick auf eindeutigere Messungen verbessert werden könnten.“ Daher habe sie eine „Eignungsprüfung“ der Luftqualitätsrichtlinien eingeleitet, die ihrer Gesamtleistung gelte. Sie soll Ende 2019 abgeschlossen sein. Dann werde geprüft, „ob die Luftqualitätsrichtlinien einschließlich der Kriterien für die Standorte der Probenahmestellen ihren Zweck erfüllen“.

Kritik aus der CDU an der Kommission

Lins kritisiert die Kommission. Sie zeige, dass ihr „die Schwachstellen der Regulierung bewusst sind“. Die Klage vor der Überprüfung einzuleiten sei „voreilig, da immer noch ungeklärt ist, ob die Standorte der Messstationen ihren Zweck erfüllen.“ Die Verkehrsministerkonferenz von Bund und Ländern hatte sich im April für die Überprüfung der Standorte ausgesprochen. Hermann hatte dies abgelehnt, weil, so ein Sprecher, die jüngste Überprüfung erst stattgefunden habe.

Die Landesanstalt für Umwelt und Messungen (LUBW), die für die Datensammlung zuständig ist, hatte im September 2017 in einer öffentlich zugänglichen Dokumentation und vor wenigen Tagen vor Experten erläutert, dass sie auch für die umstrittene Messstelle am Stuttgarter Neckartor alle gesetzlichen Kriterien aus der Bundesimmissionsschutzverordnung einhalte. Der Standort für die Messstelle könne nicht frei gewählt werden, sagte LUBW-Präsidentin Eva Bell. Vorgeschrieben seien Messungen in Gebieten, in denen die höchsten Werte auftreten.