Starrer Blick und beeindruckende Zähne: Am Gebäude Marktplatz 1 warten gleich drei sogenannte Zungenblecker. Foto: /Frank Eppler
Wer durch die Waiblinger Gassen schlendert, begegnet so manchem grimmigen Blick: Die an den Fassaden der Fachwerkhäuser befestigten Neidköpfe starren böse, fletschen die Zähne und zeigen ihre Zunge. Was hat es damit auf sich?
Annette Clauß
03.11.2024 - 13:19 Uhr
Was tun gegen Krankheiten, Missernten, Zerstörung und anderes Ungemach? „Heute haben die Leute Versicherungen und geben enorm viel Geld aus für etwas, das eventuell nie eintritt“, sagt Karl Hussinger. Der Vorsitzende des Heimatvereins Waiblingen weiß nur zu gut, dass Menschen sich auch in früheren Jahrhunderten gegen Unheil aller Art zu schützen versuchten. Denn seit den 1980er-Jahren erforscht der Waiblinger die sogenannten Neidköpfe, von denen es in seiner Heimatstadt eine stattliche Zahl zu entdecken gibt. Seine Erkenntnisse gibt er auch weiter – bei Spaziergängen, die zu den verschiedenen Exemplaren in der Waiblinger Altstadt führen.
Die meisten dieser Kleindenkmale hatten den Zweck, den neidischen oder bösen Blick von den Hausbewohnern abzuhalten. Dieser konnte nach dem Volksglauben Krankheiten oder sogar den Tod bewirken. Die mal mehr, mal weniger abschreckend wirkenden Köpfe haben teils menschliche, teils tierische Züge und sind stets gut sichtbar für Passanten an den Hausfassaden angebracht.
„Weil hierzulande Holzmangel herrschte, gab es ab dem Jahr 1495 eine Bauvorschrift, dass das Erdgeschoss aus Stein gebaut werden muss“, erklärt Karl Hussinger. Die meisten Neidköpfe in Württemberg sind folglich als Konsolsteine angefertigt. Der am Gebäude Kurze Straße 18 befestigte, aus Holz geschnitzte Neidkopf mit hervorquellenden Augen und spitzer Zunge bildet daher eine Ausnahme.
Die Neidköpfe anzufertigen, war Aufgabe von Steinmetzen, welche allerdings in einer Stadt von der Größe Waiblingens nicht ansässig waren. „Ein Steinmetz war ein Spezialist, der aus einer größeren Stadt angeworben werden musste“, sagt Karl Hussinger. Manche dieser Handwerker scheinen ganz gut herumgekommen zu sein. Zumindest hat Karl Hussinger in der elsässischen Kommune Riquewihr ganz ähnliche Neidköpfe wie in Waiblingen entdeckt.
Er geht davon aus, dass es einen Häuslebauer einen Batzen Geld kostete, wenn er einen oder mehrere Neidköpfe anfertigen und – gewissermaßen als eine Versicherung gegen Unheil aller Art – am Haus anbringen ließ. Der Erbauer des Gebäudes mit der Adresse Marktplatz 1, das später als Oberamtsgericht diente, wollte wohl ganz sicher gehen: Er hat das stattliche Fachwerkhaus mit gleich fünf gruseligen Köpfen versehen lassen, die (böse) Blicke anziehen und von den Bewohnern des Hauses ablenken sollten.
Mischgesicht aus Mensch und Löwe
Vom frühbarocken Erker schauen drei sogenannte Zungenblecker herab: Gesichter mit hervorquellenden Augen, großen Eselsohren und einem weit aufgerissenen Mund, in dem die rote Zunge und viele Zähne zu sehen sind: herzlich willkommen im Waiblingen des ausgehenden 17. Jahrhunderts! Rechter Hand wartet ein weiterer Kopf mit grimmigem Blick. Die Form des Mundes erinnert an eine Acht, die als magische Zahl galt. Das Gesicht trägt die Züge von Mensch und Löwe, im Fachjargon werden solche Neidköpfe als Mischgesicht bezeichnet. Eindeutig menschlich ist hingegen der fünfte Neidkopf am Gebäude, ein typisches Beispiel für die Kategorie „Wilder Mann“. Die Mundwinkel weit heruntergezogen, schaut der Mann mit Oberlippen- und Backenbart bedrohlich auf Passanten herab.
Amulette aus Maulwurfspfoten
Viele dieser wilden Männer tragen neben ungepflegten Bärten auch einen Helm oder einen Turban. Karl Hussinger geht davon aus, dass meist Soldaten dargestellt sind, die für die Zivilbevölkerung oft Angst und Schrecken bedeuteten. Bei den Männern mit Turban, so vermutet Hussinger, handelt es sich möglicherweise um Janitscharen, also Elitesoldaten des Osmanischen Reichs. „Meinem Eindruck nach soll beim Betrachter das Gefühl einer kurz bevorstehenden aggressiven Aktion erweckt werden und so das dringende Bedürfnis entstehen, diesem wilden Mann schnellstmöglich aus dem Weg zu gehen.“
Ein „wilder Mann“ schaut am Gebäude Kurze Straße 18 auf Passanten herab. Foto: Frank Eppler
Die meisten Neidköpfe wurden zwischen 1680 und 1720 angebracht. In Waiblingen zieren auch etliche Löwenköpfe die Fassaden – als Sinnbilder für Macht, Stärke und Wildheit. In der Langen Straße 14 beißt die Raubkatze auf einen Ring, der als magisches Abwehrsymbol gilt. Zwei weitere Köpfe am Haus zeigen hingegen „schöne Gesichter“: eine blonde Frau mit lockigem Haar und schmuckem weißen Halskragen und einen Männerkopf. Sie könnten als Hausmarken gedient haben, sagt Karl Hussinger – wichtige Wegweiser in einer Zeit, bevor die Gebäude in der Stadt durchnummeriert wurden.
Solche schönen Köpfe seien aber auch als Schutz gegen das „gefährliche Auge“ denkbar, erklärt Karl Hussinger. Dieses konnten dem Aberglauben nach ganz gewöhnliche Menschen haben – und damit Unheil anrichten, ohne es zu wollen. Um das zu verhindern, mussten sie ihren Blick auf etwas Lebloses richten, zum Beispiel einen steinernen Kopf an der Wand. „Das 17. Jahrhundert war eine Zeit des tiefen Aberglaubens und der Hexenverfolgung. Die Menschen haben eine Vielzahl von Hilfsmitteln erdacht, um sich vor dem bösen Blick zu schützen“, sagt Hussinger. Zum Beispiel trugen sie Amulette aus Maulwurfspfoten oder gegerbte Haut von Toten mit sich, um rund um die Uhr geschützt zu sein. Der Mittwoch und der Freitag galten als „Hexentage“. Eine Trauung an einem dieser Tage – heute gang und gäbe – wäre für die Menschen damals schlicht undenkbar gewesen.
Der Heimatverein Waiblingen bietet regelmäßig Führungen zu den Neidköpfen in der Altstadt von Waiblingen an. Anfragen kann man an Karl Hussinger richten unter der E-Mail-Adresse hussinger@hvwn.de oder telefonisch unter 0 71 51/187 93.