Die Serien-Adaption von Neil Gaimans Graphic-Novel-Reihe „The Sandman“ auf Netflix taucht bildmächtig in Mythen und Grundfragen der Menschheit ein.

Morpheus (Tom Sturridge), Herr der Träume, duelliert sich in der Hölle mit deren schwarzgeflügelter Herrin Lucifer Morningstar (Gwendoline Christie): Abwechselnd wählen sie im Konter-Rollenspiel Gestalten, etwa Raubtier und Jäger. Weder müssen sie diese Gestalten annehmen, noch einander berühren – die reine Vorstellung genügt, um reale Wirkungen zu verursachen.

 

Die in fantastische Bilder gesetzte Sequenz ist ein Glanzpunkt in der mit Spannung erwarteten Serien-Adaption der hochkomplexen Graphic Novel-Reihe „The Sandman“ (1989-1996) des Engländers Neil Gaiman („American Gods“, „Good Omens“) . Die galt lange als unverfilmbar. Netflix hat es nun gewagt und der Schöpfer ist mit im Boot.

Ein Okkultist setzt Morpheus jahrzehntelang fest

Er bedient sich gern bei den Mythen der Menschheit wie Joanne K. Rowling in „Harry Potter“ – und wie William Shakespeare. Der tritt sogar auf in einer Episode, die den Traum vom ewigen Leben verhandelt und zu völlig anderen Ergebnissen kommt etwa als die Existenzialistin Simone de Beauvoir in ihrem düsteren Roman „Alle Menschen sind sterblich“.

Morpheus oder „Dream“ ist wie in der griechischen Mythologie der Herr der Träume, aber kein Gott, sondern einer von sieben „Endless“ (Ewigen), die unabhängig von Glauben existieren. Er jagt 1916 in London einen abtrünnigen Albtraum, der in der „waking World“ Menschen meuchelt. Dabei gerät er in den Sog einer Séance des Okkultisten Roderick Burgess (Charles Dance). Der möchte den Tod fangen, um seinen im Weltkrieg gefallenen Sohn zurückzubekommen. Morpheus wird 106 Jahre lang in einem Bannkreis im Kellerverlies festsitzen.

Der Tod ist weiblich – und eine sanfte Sterbebegleiterin

Derweil versinkt das Traumwesen draußen im Chaos, Morpheus’ Werkzeuge geraten in falsche Hände. Menschen missbrauchen den Traumsand und den Traumrubin, ein Dämon den Visionshelm. Als Morpheus freikommt, hat er viel zu reparieren.

Wie eine Dark-Wave-Erscheinung aus einer Steampunk-Saga stolziert der Brite Tom Sturridge in Schwarz durch die Serie. Sein Morpheus ringt mit der Irritation eines eigentlich Unantastbaren. Er begegnet der Demütigung mit Äonen-alter Arroganz – und wird sich selbst neu finden müssen. Dabei hilft ihm seine Schwester Tod, die ihre Lektionen in Demut gelernt hat: Strahlend verkörpert Kirby Howell-Baptiste („Killing Eve“) eine empathische Sterbebegleiterin weit jenseits aller Sensenmann-Klischees.

Boshafte Dämonen, Teleportationen per Sandstrudel

Starke Auftritte in der colourblind besetzten Serie haben auch Kain (Sanjeev Bhaskar ) und Abel (Asim Chaudhry), die in einer Brudermord-Schleife festhängen. Die toughe, albtraumgeplagte Exorzistin Johanna Constantine (Jenna Coleman) bringt Morpheus ins Grübeln und schickt grausige Dämonen zurück in die Hölle. Dort trifft Morpheus dann auf eine schön schnippische Teufelin in Gestalt von Gwendoline Christie, die als unbeugsame Ritterin Brienne of Tarth in „Game of Thrones“ zu Weltruhm gelangte.

Die Serie übersetzt Gaimans Fantasiewelten, in denen sich keine Kreatur jemals ganz sicher sein kann, in kunstvoll gestaltete, gespenstische Bewegtbilder. Ein Traumreich in Ruinen gibt es zu sehen, mit dem Höllenportal verwachsene Verdammte, vor Boshaftigkeit blitzende Dämonen, Teleportationen mittels Sandstrudeln und den naseweisen Raben Matthew, der den entrückten Morpheus ebenfalls erdet.

Eine Episode ist wie ein Kammerspiel von Altman, Lynch oder von Trier

Ein Gegenspieler ist Burgess’ Sohn John Dee, eine zutiefst deformierte Seele. Kaum der Psychiatrie in den USA entflohen, möchte er mit dem Rubin die Menschheit von ihren Lügen befreien. Als Testlabor wählt er ein Diner mit buntem Figurentableau. Über die gesamte fünfte Folge entspinnt sich ein grandioses Kammerspiel, wie Robert Altman („Short Cuts“) es hätte inszenieren können.

Die charmante Kellnerin Bette, der muffige Koch Marsh, die liebeskranke Judy, eine herrische Chefin, ihr untergebener Ehemann und ein junger Bewerber geraten in den Sog ungeschützter Wahrheiten. Bald verrutscht die Anordnung zuerst in Richtung David Lynch, dann auf blutiges Lars von Trier-Terrain. Wer das nervlich durchsteht, wird belohnt mit einer wichtigen Erkenntnis: Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Lügen und Träumen.