Hier arbeiten gleich drei Meister zusammen: der Regisseur Paul Thomas Anderson, der Sänger Thom Yorke von Radiohead und der Choreograf Damien Jalet. Ihr Film „Anima“ ist ein Gesamtkunstwerk – und nun bei Netflix zu sehen.

Stuttgart - Ein Zug rast durch einen Schacht, an Bord sind müde, ausgelaugte Arbeiter. Aus der Masse sticht ein Mann hervor. Gerade noch wippte er schlaftrunken im selben Rhythmus wie die anderen. Als sein Blick auf eine schöne Frau fällt, erwacht er aus seiner Trance. Beim Ausstieg verliert er die Unbekannte wieder aus den Augen. Die Fahrt mit der Rolltreppe zieht sich hin, das Drehkreuz am Ausgang ist widerspenstig.

 

Eine unsichtbare Kraft saugt ihn erst zurück in eine bizarre Unterwelt mit tanzenden Schatten und stellt ihn schließlich auf eine schiefe Ebene, auf der er sich zusammen mit anderen Verirrten kaum halten kann. Ein Papierfetzensturm bläst ihn nach draußen auf die Straßen des nächtlichen Prag, wo ihn die Frau erwartet. Zusammen mit anderen Paaren tanzen sie durch Nebelschwaden, langsam wird es hell. Am Ende eines Parks nimmt eine Straßenbahn alle auf. „Zvlastni Jizda“ steht auf ihrer Richtungsanzeige; „seltsame Fahrt“.

Eine Welt zwischen Wachen und Träumen

Und tatsächlich ist „Anima“, ein vor wenigen Tagen beim Streamingdienst Netflix erschienenes, fünfzehnminütiges Gesamtkunstwerk aus Musik, Bildern und Tanz ein verrückter Trip, ein bemerkenswertes Projekt noch dazu. „Anima“ ist das Ergebnis einer Kooperation des US-Filmemachers Paul Thomas Anderson („Boogie Nights“, „Magnolia“) mit dem britischen Musiker Thom Yorke von der Alternative-Rock-Band Radiohead und dem belgisch-französischen Tänzer-Choreografen Damien Jalet. Anderson und Jalet führen Thom Yorke in der Rolle des somnambulen Einzelgängers durch eine Welt zwischen Wachen und Träumen. Der Titel und die drei Musikstücke des Films sind jedoch von Yorkes neuem Solo-Album entnommen und bilden die Grundlage der dialoglosen Erzählung.

Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse

Anima ist ein Begriff aus der analytischen Psychologie C.G. Jungs und bezeichnet den weiblichen Teil der Seele eines Mannes, aber auch den Übergang ins Unterbewusste. Ohne seine Anima, erklärte Jung in seiner Theorie der Archetypen, sei der Mann verloren, er entwickle Depressionen und leide unter heftigen Gefühlsausbrüchen.

Die schwere Themenstellung ist typisch für Yorkes Arbeiten. Berühmte Radiohead-Stücke wie „Street Spirit (Fade Out)“ oder „No Surprises“ prägten zum Ende der Neunzigerjahre die öffentliche Wahrnehmung der Band als zutiefst melancholisch und düster. Bis heute handeln deren Songtexte von der Vereinzelung des Menschen, vom Ringen mit Emotionen, Systemen und Technologien.

Im Film gibt es ein Happy End, in der Musik nicht

Für Yorkes Sujets und elektronisch basierten Sound findet Paul Thomas Anderson so einfache wie prägnante Bilder mit einem einzigen, hoffenden Individuum im Zentrum einer entfremdeten Masse, das eben nicht nur irgendeiner Frau hinterher stolpert, sondern einem vermissten Teil des eigenen Selbst auf die Spur kommt. Damien Jalet setzt die auf nervöse Breakbeats fußenden Kompositionen in stilisierte, repetitive Alltagsbewegungen um, mit synchron nickenden, stürzenden, rollenden Körpern.

Im Film erzwingt Anderson eine Art Happy End für den Mann und seine Anima, auf Yorkes Album prallen dagegen bis zum Schluss verschiedene Stimmungslagen aufeinander, oft mitten in einem einzigen Song. Wirklich hell wie in Andersons Bildern wird es in der Musik also nie, Yorke will wohl weiter suchen nach dem fehlenden Teil der Seele. Ein bittersüßes, schaurig-schönes Hörerlebnis.