In der Zukunft, droht Andrew Niccols Thriller „Anon“, kann die Polizei Gedanken sehen. Das Innenleben aller Menschen wird ständig in die Cloud geladen. Clive Owen spielt den Cop, der es mit einer Lücke im System zu tun bekommt.

Stuttgart - Der Autor Philip K. Dick gilt Science-Fiction-Fans als Visionär. Hellsichtig beschrieb der Amerikaner seit den Fünfzigern erschreckende Zukunftsszenarien, die dann teilweise Realität wurden. Das von Dick erstmals in der SF-Literatur beschriebene Pre-Crime-Konzept etwa hat als „vorausschauende Polizeiarbeit“ Einzug in die moderne Kriminalistik gefunden hat. Damit beschäftigt sich nun der Thriller „Anon“von Autor und Regisseur Andrew Niccol, der bereits mit „Gattaca“ (1997) und „In Time“ (2011) spannende Dystopien entworfen hat.

 

In einer fremden Metropole ist jeder Bürger durch einen Chip im Auge, genannt Mind’s Eye, mit einem Computernetzwerk verbunden. Sämtliche Wahrnehmungen und Erinnerungen werden aufgezeichnet und als konstanter Bewusstseinsstrom in eine Datencloud geladen. Die wird natürlich von staatlichen Sicherheitsorganen ausgewertet.

Ein Mörder hat sich abgekoppelt

Für Kriminelle ist das Risiko, ertappt zu werden, immens hoch. So schlägt sich Detective Sal Frieland (Clive Owen) bloß noch mit geringfügigen Delikten herum. Bis in der Cloud Bilder von grausamen Morden auftauchen, die das Geschehen jedoch nie aus Tätersicht, sondern nur unvollständig aus der Opferperspektive zeigen. Schnell fällt Verdacht auf die vom Netz abgekoppelte Daten-Hackerin Anon (Amanda Seyfried), die ihr Know-how als Dienstleistung für auf Abwege geratene, zahlungskräftige Kunden vermarktet. Um der mysteriösen Einzelgängerin auf die Schliche zu kommen, gibt sich Frieland als notorischer Fremdgänger aus, der sich eine blütenreine Hirnhistorie erkaufen will.

Der Plot um die Aufklärung der Morde folgt konventionellen Mustern. Niccols ästhetischer Zugriff auf die Zukunft ist dafür umso spannender. In rasanten Perspektivwechseln vollzieht der Zuschauer die unterschiedlichen Sichtweisen der Akteure nach. Blickt man durch die technisch manipulierten Augen Frielands, schaut man dessen jeweiligem Gegenüber nicht bloß vor die Stirn, sondern erhält über das Mind´s Eye zusätzliche, virtuelle Informationen zur Person. Oft überlagern sich die auf die Realität aufprojizierten Pop-up-Fenster, deren Inhalte im Rhythmus von Frielands Schritttempo rasch vorüberziehen. Sie zu entziffern ist unmöglich, doch Frieland scannt jedes Gesicht mit einem einzigen Wimpernschlag. Zudem arbeitet Niccol mit verschiedenen Bildformaten, um den neutralen Außenblick von der individuellen Perspektive zu unterscheiden.

Totale Verunsicherung

Im Gegensatz zum kalten High-Tech-Design der Stadtansichten zeichnet Niccol das Innenleben Frielands als von privaten, beliebig oft abspielbaren Erinnerungssequenzen erhelltes Gedankenasyl. Frieland hat seinen Sohn bei einem Unfall verloren, seine Ehe ist daran zerbrochen. Die visuelle Verbindung zur Vergangenheit ist für Frieland überlebenswichtig, weil er sich so ein Stück Autonomie bewahren kann. Kein Wunder, dass die vom System unabhängige Anon anziehend auf ihn wirkt.

Es ist ein bisschen schade, dass sich Niccol letztlich nur wenig für den Kriminalfall interessiert. Dass er aber die totale Verunsicherung fremdgesteuerter Individuen in seiner Bildsprache nicht nur sichtbar, sondern auch emotional nachvollziehbar macht, ist fantastisch.