Der französische Film erzählt die Geschichte einer lesbischen Liebe. In Cannes hat er die Goldene Palme gewonnen. Aber es gab auch Debatten über die ausführlichen Sexszenen im Film.

Stuttgart - Gibt es denn auch eine hässliche Kunst?“ – Diese Frage stellt Adèle (Adèle Exarchopoulos) ihrer Freundin Emma (Léa Seydoux). Emma studiert „Schöne Künste.“ Offensichtlich kapiert Adèle mit ihren siebzehn Jahren nicht, wieso Kunst in Schubladen gesteckt werden soll. Adèle geht in die elfte Klasse eines Literaturgymnasiums. Sie liest leidenschaftlich gerne komplizierte Wälzer wie Marivaux´ „Das Leben der Marianne“, bei dem andere Jugendliche ihres Alters schon längst genervt die Augen verdreht hätten. Sie ist selbstbewusst und gilt in ihrer Klasse als eine der Schönsten.

 

Allerdings legt Adèle keinen gesteigerten Wert auf ihr Äußeres; Das Haar ist meistens ungewaschen zu einer undefinierbaren Frisur verknotet. Wenn Adèle isst, dann schlingt und schmatzt sie genüsslich. Wenn sie traurig ist, verkriecht sie sich in ihr Bett, bedient sich aus einer Kiste unzähliger Schokoriegel und lässt Rotz und Tränen freien Lauf. Die Klassenkameradinnen bevorzugen derweil ganz andere Genüsse. Auf dem Schulhof geht es nur um Sex in der härtesten Gangart. Ohne viel Aufhebens wird Adèle mit einem Jungen der höheren Klasse verkuppelt. Zwar entwickelt sich eine Freundschaft, doch nach dem ersten Beischlaf im Jugendzimmer merkt Adèle, dass ihr etwas fehlt. Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag lernt sie die um ein paar Jahre ältere Emma kennen, in die sie sich Hals über Kopf verliebt.

Eine ganz normale Liebesgeschichte, könnte man meinen, abgesehen davon, dass sich hier zwei Mädchen lieben. Das Besondere an Abdellatif Kechiches Film ist aber eben nicht, dass er eine lesbische Liebesgeschichte erzählt, sondern, wie er es tut. Der Originaltitel „La vie d´Adèle – Chapitres 1 et 2“ klingt nach dokumentarischer Fallstudie, aber er macht deutlich, worum es eigentlich geht: um nichts anderes als das Leben an sich.

Ist das schon Pornografie?

Auf den ersten Blick ist das nicht immer bequem, was allerdings nicht bedeutet, dass irgendetwas an dieser Geschichte in Kategorien wie „hässlich“ oder „anstößig“ gehört. Im Gegenteil, der Regisseur Kechiche („Couscous mit Fisch“) erzählt mithilfe seiner außergewöhnlich mutigen Hauptdarstellerinnen davon, wie sich Liebe anfühlt und wie sie aussieht, mit allen Facetten und Konsequenzen. Das Sich-Verlieben zwischen Adèle und Emma geschieht dabei noch ganz leicht. Im zweiten Schritt müssen sich die beiden ihrem Umfeld stellen: den Eltern, Emmas Künstlerfreunden und vor allem den Mitschülerinnen von Adèle, für die Lesben vor allem Schlampen sind. Obwohl es Szenen gibt, die die schwierige Situation des Liebespaars in einer homophoben Umgebung zeigen, schwingt sich Kechiche nicht zum Moralapostel auf. Adèles Auseinandersetzung mit den gehässigen Schulmädchen endet sehr handfest.

So viel ist klar: Trotz mancher Zweifel hat Adèle ihrer Familie und den ehemaligen Freunden eine Menge voraus. Sie ist in der Lage, ihre Zuneigung zu Emma selbstbestimmt und kompromisslos auszuleben. Kechiche ist deshalb auch in den wenigen, dafür expliziten Sexszenen konsequent. Anstatt die Lust der Mädchen verschämt auszublenden, zeigt er sie so, wie sie ist. Für Zuschauer, die in Sachen Pornografie eine niedrige Toleranzgrenze mitbringen, könnte der intime Blick ins Schlafzimmer eine Herausforderung sein. Aber so sieht es nun einmal aus, wenn zwei Menschen miteinander schlafen.

Der zweite Teil erzählt von der Trennung

So intensiv Kechiche das Gefühl der Liebe vermitteln will, so schonungslos widmet er sich auch den Ablösungsprozessen. Adèle hat inzwischen das Abi gemacht und möchte ganz bodenständig als Grundschullehrerin arbeiten. Die beiden leben in einer Art Ehe zusammen, in der die Rollen klar verteilt sind. Die romantischen Gefühle haben sich verflüchtigt. Der folgende lange Abschied ist extrem schmerzhaft, auch für den Zuschauer.

Kechiche gelingt es immer wieder, mit seiner Erzählung an allgemein gültigen Erfahrungen anzudocken und stellt klar, dass es vollkommen gleichgültig ist, ob sich zwei Frauen lieben oder ein heterosexuelles Paar. Darin liegt seine besondere Stärke; der Film gehört zum Besten, was in diesem Jahr auf der Leinwand zu sehen war. Die Jury des Filmfestivals von Cannes sah es im Frühjahr genauso: Die Goldene Palme ging an die Regie und die Darstellerinnen.

Eine herbe Debatte folgte allerdings: Das Filmteam beschwerte sich über unerträgliche Arbeitsbedingungen, und die beiden Hauptdarstellerinnen schilderten Kechiches Regiestil als Folge von Übergriffen und Schindereien: nie wieder, machten sie klar, würden sie für ihn vor die Kamera treten. Wie viel Grausamkeit ist also erlaubt, um zu großer Kunst zu kommen?