Die Eskalationsspirale dreht sich immer weiter: In seinem preiswürdigen Film „Das Lehrerzimmer“ entlarvt Regisseur Ilker Çatak den Mikrokosmos Schule als Abbild der Gesellschaft. Im Epizentrum des Konflikts: Leonie Benesch als engagierte Junglehrerin.

So ganz hat die Klasse noch nicht verstanden, warum 0,9 Periode gleich 1 ist. Die Aufgabe, die Carla Nowak (Leonie Benesch) den Jungen und Mädchen der siebten Jahrgangsstufe gestellt hat, war wohl doch ein wenig anspruchsvoll. „Aber das Wichtigste, was ihr verstehen müsst“, so betont die junge Lehrerin, „ist, dass ein Beweis immer eine Herleitung braucht.“

 

Kurz drauf klopft es an der Tür, und die Direktorin unterbricht mit zwei Kollegen als Verstärkung den Unterricht. Die Mädchen sollen den Raum verlassen und die verbleibenden Jungs ihre Geldbörsen auf den Tisch legen. Bei der Razzia geht es auch um die Sicherung von möglichen Beweisen. In der Schule wird geklaut, und wer zu viel Geld im Portemonnaie hat, steht unter Verdacht. So wie Ali. Die vorgeladenen Eltern türkischer Herkunft können die Sache ausräumen. Der Sohn habe so viel Geld bei sich gehabt, weil er nach der Schule ein Videospiel kaufen wollte. Dennoch gilt Ali bei manchen Mitschülern weiterhin als potenzieller Dieb, auch wenn es dafür keinen Beweis mit schlüssiger Herleitung gibt. Denn die Gruppendynamik an einer Schule folgt nur bedingt den Gesetzen der Mathematik.

Das Muster der Bluse entlarvt die Diebin

Und so macht sich Carla Nowak selbst an die kriminalistische Recherche, um die Unschuld des Schülers zu belegen. Sie zählt die Scheine in ihrer Geldbörse durch, verstaut diese in ihrer Jacke und versetzt die Kamera des Laptops in den Aufnahmemodus, bevor sie das Lehrerzimmer verlässt. Auf den Bildern ist später der Arm der Diebin und das Muster der Bluse der allseits beliebten Sekretärin Frau Kuhn (Eva Löbau) zu erkennen, die wiederum jeglichen Verdacht von sich weist: Das Bildmaterial sei nicht eindeutig und kein juristisch tragfähiger Beweis. Vielmehr habe sich Carla mit den illegalen Aufnahmen selbst strafbar gemacht. Mit der vorläufigen Suspendierung der Sekretärin gerät eine schulische Konfliktdynamik in Gang, in deren Epizentrum sich die junge Lehrerin wiederfindet.

Die Schule als gesellschaftlichen Mikrokosmos hat schon Sönke Wortmann in „Frau Müller muss weg“ und „Eingeschlossene Gesellschaft“ erkundet. Aber während sich diese beiden Filme auf die Eltern-Lehrer-Dynamik konzentrierten, nimmt Ilker Çatak in „Das Lehrerzimmer“ das ganze komplexe Beziehungsgeflecht eines Schulbetriebes unter die Lupe. Im Zentrum steht dabei eine junge, kompetente Lehrerin, die den pädagogischen und moralischen Multitasking-Ansprüchen des Berufes vollauf gewachsen zu sein scheint und bei allem das Wohl der Schüler im Auge behält.

Messerscharfer Blick für die Widersprüche im Schul-Biotop

Während der Konflikt über die mutmaßliche Diebin und deren Sohn Oskar (Leonard Stettnisch), der in ihre Klasse geht, zunehmend eskaliert, muss Carla stets ihr ethisches Koordinatensystem neu justieren. Dabei sieht sie sich den Anfeindungen aus dem Kollegium ausgesetzt, in dem Einzelne die engagierte Junglehrerin als Konkurrenz empfinden. Aber auch in der Klasse, welche die aufmerksame Pädagogin bisher gut im Griff gehabt hat, läuft der Unterricht aus dem Ruder, als der intelligente Oskar seine Mitschüler gegen die Mathematiklehrerin aufhetzt. Schließlich nimmt sich auch noch die ambitionierte Redaktion der Schülerzeitung des Falles an, die mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten gegen die Lehrerin polemisiert und mit Rassismusvorwürfen schnell bei der Hand ist.

Das alles inszeniert Çatak nicht nur mit einem ungeheuer pulsierenden Spannungsbogen, sondern vor allem auch mit einem messerscharfen Blick für die Widersprüche im schulischen Sozialbiotop. Dabei kommt der Film vollkommen ohne Prototypen aus, zeichnet die Figuren konsequent differenziert und verweigert sich mit einem offenen Ende allen Versöhnungs- und Katharsis-Ansprüchen.

Große emotionale Intelligenz

„Das Lehrerzimmer“ ist von der ersten bis zur letzten Filmminute ein Bekenntnis zur Ambivalenz, wie man es im deutschen Kino nur selten erleben darf. Strukturanalyse und Empathie fließen hier überraschend bruchlos ineinander und gehen weit über den Mikrokosmos Schule hinaus. Mit großer emotionaler Intelligenz zeichnet Çatak das hochaktuelle Bild einer aufgeheizten gesellschaftlichen Diskussionskultur, die in ihren eigenen Eskalationsmechanismen gefangen ist.

„Das Lehrerzimmer“ wurde in sieben Kategorien für den Deutschen Filmpreis nominiert und ist damit der wichtigste Konkurrent zu dem Oscar-Gewinner „Im Westen nichts Neues“. Darunter ist auch eine Nominierung für Hauptdarstellerin Leonie Benesch, die hier in jeder einzelnen Szene präsent ist und den Film mit einer ungeheuer klaren und fokussierten Performance auf ihren Schultern trägt.

Das Lehrerzimmer: Deutschland 2023. Regie: Ilker Çatak. Mit Leonie Benesch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak, Eva Löbau. 98 Minuten. Ab zwölf Jahren.

International erfolgreich

Regisseur
 Ilker Çatak wurde 1984 in Berlin als Kind türkischer Einwanderer geboren; er absolvierte ein Regiestudium in Berlin und Hamburg und gewann mit seinem Abschlussfilm „Sadakat“ 2014 den Student Academy Award in Gold. Sein Film „Es gilt das gesprochene Wort“ (2019) wurde für den Deutschen Filmpreis nominiert.

Schauspielerin
 Leonie Benesch, 1991 in Hamburg geboren, in Tübingen aufgewachsen, ist eine international erfolgreiche Schauspielerin. Zu ihren jüngsten Projekten zählen die Serie „In 80 Tagen um die Welt“ und die ZDF-Miniserie „Der Schwarm“.