Was ist noch Widerstand? Was ist schon Terrorismus? Davon erzählt Julia von Heinz in „Und morgen die ganze Welt“. Das Politdrama läuft vom 29. Oktober an in den Kinos. Einen Tag zuvor wurde der Film bereits zu Deutschlands Kandidaten für den Auslands-Oscar gekürt.

Stuttgart - Das Widerstandsrecht im Grundgesetz stellt Julia von Heinz an den Anfang ihres nervenzerfetzenden Dramas: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, heißt es in Artikel 20 Absatz 4. Die Bundesbürger werden im Notfall also Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – ein Reflex auf die „Ermächtigung“ der Nazis. Allerdings gehen die Meinungen sehr weit auseinander, wann dieser Widerstandsfall eintritt.

 

Auch unter den linksalternativen jungen Menschen in einem autonomen Kulturzentrum in Mannheim: Während die meisten glauben, dass Protest gegen Rechtsextremismus friedlich und sympathisch daherkommen sollte, setzt der schmucke Kampfsportler Alfa (Noah Saavedra) auf handfeste „Aktionen“ – er möchte den Teilnehmern einer Neonazi-Kundgebung nicht nur die Autos demolieren, sondern sie auch gleich verprügeln.

Schreckliche Taten stehen im Raum

In dieses Spannungsfeld setzt Julia von Heinz die aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Jura-Studentin Louisa (Mala Emde), die sich in atemberaubendem Tempo radikalisiert und auch Verletzungen wegsteckt, um vor Alfa und seinem Mitstreiter Lenor (Tonio Schneider) nicht schwach auszusehen. Als Helfer und Notarzt fungiert der frühere Linksterrorist Dietmar (Andreas Lust), der nach einem längeren Gefängnisaufenthalt eigentlich ausgestiegen ist.

Man möchte dieses Mädchen durchschütteln und ahnt: Es wäre vergeblich, denn sie ist zu empört. Von den Nazis erbeuteter Sprengstoff und ein Jagdgewehr ihres Vaters sind bald im Spiel, schreckliche Taten stehen im Raum, die Leben zerstören. Die Nazis singen derweil Hasslieder und geben Glassplitter in den Kleister, damit sich wüst verletzt, wer ihre Plakate abzureißen versucht.

Die Regisseurin war lange selbst linke Aktivistin

Vom ersten Moment an vibriert dieser Film vor Dringlichkeit: Wie weit dürfen Bürger gehen? Wo wird Widerstand zu Terrorismus? Wo stößt an Grenzen, was Max Weber als Gesinnungsethik bezeichnete: die Haltung, kompromisslos Zielen zu folgen ohne Rücksicht auf die Folgen?

Julia von Heinz, Jahrgang 1976, stieg als 15-Jährige bei der Antifa ein, nachdem Nazis ihre Geburtstagsfeier überfallen hatten. Sie war jahrelang unter Aktivisten, das macht sie zur glaubwürdigen Zeugin. Unparteiisch ist sie nicht, aber kritisch: Sie schaut differenziert auf Sachverhalte und lässt die Zuschauer mit ihrer Protagonistin durch eine emotionale Hölle gehen. Die Hauptdarstellerin Mala Emde verleiht Louisa die Aura einer unschuldigen jungen Frau, die sich dann aber eiskalt und unter vollem Körpereinsatz hineinwirft in ihre Aktionen gegen den Feind.

Der Film zeigt zweierlei Maß

Dass Rechtsradikalismus eine ernste Bedrohung ist, steht fest, seitdem 2011 die NSU-Morde aufgedeckt wurden. Verfassungsschützer und V-Leute waren verstrickt, es wurde kleingeredet und vertuscht. Dadurch womöglich ermutigt, mordeten Rechtsradikale weiter, 2019 traf es den CDU-Politiker Walter Lübcke, 2020 neun Menschen in Hanau. Teile der Polizei sind ebenso von rechten Verfassungsfeinden unterwandert wie Spezialkräfte der Bundeswehr. „Wir haben nichts verschlafen“, behauptete ungerührt der gefeuerte Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen noch 2019 im ZDF. Hätten Linke solche fürchterlichen Taten begangen, es wäre wohl sofort Alarmstufe Rot ausgerufen worden wie zu RAF-Zeiten.

Auch dieses Thema spielt Julia von Heinz, subtil zeigt sie das große Dilemma der Linken auf: Als demonstrierende Neonazis einen asiatischen Imbissbesitzer blutig schlagen, greift die Polizei nicht ein; kurz darauf stürmt und räumt ein Sondereinsatzkommando in voller Kampfmontur das Refugium der überwiegend harmlosen linksalternativen Freaks, um die Handvoll zu erwischen, die genau diese Neonazis verprügelt und bestohlen hat.

Kandidat für den Auslands-Oscar

Am Mittwoch wählte einen Expertenjury „Und morgen die ganze Welt“ im Auftrag der deutschen Filmmarketing-Organisation German Films als den Film aus, der für Deutschland in das Rennen um den Oscar gehen soll. Die Oscar-Akademie in den USA wählt in jedem Jahr fünf ausländische Produktionen aus, die um den Titel Bester internationaler Film konkurrieren.

Die Jury würdigte den Film als „persönlichen Film von großer, emotionaler Wucht“. Getragen von der „herausragenden“ Hauptdarstellerin Mala Emde und gefilmt in präzisen Bildern, konfrontiere der Film „den Zuschauer mit Konflikten und Entscheidungsprozessen, denen wir uns alle nicht entziehen können“, erklärte German Films in München.

Die Oscar-Verleihung soll am 25. April 2021 stattfinden. Rund zweieinhalb Monate vor diesem Termin verkündet die Oscar Academy am 5. Februar, welche fünf internationalen Produktionen sie ins Rennen schickt. Ob der deutsche Beitrag dabei sein wird, ist damit offen. Im vergangenen Jahr ging für Deutschland der Film „Systemsprenger“ an den Start, scheitere aber in der Vorauswahl.

Und morgen die ganze Welt. Deutschland 2020. Regie: Julia von Heinz. Mit Mala Emde, Noah Saavedra. Start: 29. Oktober, 111 Minuten. Ab 12 Jahren. In Stuttgart in den Kinos Atelier am Bollwerk, Cinema, EM und Metropol.

Weitere deutsche Widerstandsfilme

Der 20. Juli (1955)
Falk Harnack, Mitglied der Weißen Rose, wurde angeklagt und überraschend als Einziger freigesprochen. Der Film lässt die Offiziere um Stauffenberg philosophisch ihre Pflichten diskutieren, zeigt Formen des Widerstands gegen die Nazis auf und fragt, wieso nicht mehr Mutige gegen Hitler aufstanden.

Die weiße Rose (1981)
In Michael Verhoevens Spielfilmdrama ist die famose Lena Stolze als Sophie Scholl zu sehen, wie sie liebt, streitet, lacht, leidet und Papier klaut für die Flugblätter gegen die Tyrannei, deretwegen die Nazis sie und ihre Mitstreiter umbringen. m

Die fetten Jahre sind vorbei (2004)
In Hans Weingartners Drama wird aus Protestspaß Ernst, als drei ertappte linke Aktivisten in der Not zu Entführern werden – und der vermeintliche Kapitalist sich als Alt-68er entpuppt.