Stuttgart hat Probleme. Mehr als eines. Das neue satirische Hausprogramm im Renitenztheater knöpft sich (fast) alle vor: S21, Wohnungsnot, Klinikum-Skandal und Diesel-Zoff. Und setzt noch eine wuchtige Komplikation obendrauf.

Stuttgart - Fragen Sie sich manchmal, wieso wir in Stuttgarter wider besseres Wissen S21 bauen? Und weshalb der Bahnhof ums Verrecken unter die Erde musste und nicht oben bleiben durfte? Womöglich wissen Sie’s einfach noch nicht: Ein Komet wird die baden-württembergische Landeshauptstadt treffen und alles oberhalb der Grasnarbe zertrümmern. Immerhin: Der unterirdische Bahnhof bleibt unbeschadet.

 

Dies ist die Prämisse der neuen Hausproduktion „Wohin mit Stuttgart?“, die am Donnerstag Premiere im Renitenztheater gefeiert hat. Doch die Korruption beim immer kostspieliger werdenden Milliardengeschäft ist nur eine der vielen Facetten des musikreichen satirischen Theaterstücks aus der Feder des Autors und Darstellers Thilo Seibel.

Das neue Wirtschaftswunder

Regisseur Hans Holzbecher lässt die Akteure etliche Aspekte des Katastrophenszenarios durchspielen. Schafft man es, sich rasch an die zu Beginn überzogen alberne Inszenierung zu gewöhnen und den bisweilen rasanten Dialogen zu folgen, begreift man, dass solch ein Armageddon im Kapitalismus eigentlich gar kein Anlass zur Trauer ist. Im Gegenteil: „Das wird das neue deutsche Wirtschaftswunder! Die Kurse gehen rauf, geht hier alles unter!“, trällert Björn Christian Kuhn als tänzelnder Bauunternehmer.

Die vom musikalischen Leiter Andrew Zbik live mit dem Schlagzeug begleiteten Lieder überzeugen vor allem, wenn Claudia Dilay Hauf singt. Als enttäuschte Tochter eines Grünen-Politikers etwa wirft sie ihrem Vater Opportunismus vor: „Du und deine grünen Gesellen – Hauptsache keine Wähler verprellen!“

Die Entschleunigung in Person

Vom Wohnungsmarkt über den Klinikum-Skandal bis hin zum Dieselbetrug zählt „Wohin mit Stuttgart?“ so ziemlich alles auf, was hier schiefläuft. Aber auch auf der Welt. Seibel als Krösus aus Saudi-Arabien und Viola Neumann als Vertreterin des russischen Militärs bringen bald auch internationale Aspekte mit ein. Mal eher primitiv, mal sehr gescheit. Für eine genaue Betrachtung der Umstände bleibt bei solch einer thematischen Überfrachtung freilich keine Zeit. Die Handlung rast so schnell wie der Komet.

Seinen besonderen Charme versprüht „Wohin mit Stuttgart?“ deshalb auch erst in der etwas entschleunigten zweiten Hälfte. Die beginnt mit einer Videobotschaft des einstigen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, sprich: der Entschleunigung in Person. Er wendet sich aus Brüssel an die Bewohner seiner alten Heimat: „Leider kann ich aus beruflichen Gründen zum Zeitpunkt des Einschlags nicht in Stuttgart sein“, erklärt er und leitet damit einen Reigen an Clips prominenter Gesichter ein. Famos!

Herzig trotz Problemstellen

Den musikalischen wie komödiantischen Höhepunkt markiert ein „Live Aid“-Konzert für Stuttgart. Das Ensemble wartet mit Parodien von Tina Turner bis Herbert Grönemeyer auf. Und die Moderation dieses überlebenswichtigen Ereignisses ist im Renitenztheater natürlich Chefsache – und hier verbleibt dieser Artikel der schönen Überraschung wegen bewusst kryptisch.

Damit kann „Wohin mit Stuttgart?“ den Anspruch aufklärerischen Kabaretts zwar kaum erfüllen. Wer die Zusammenhänge der zahlreichen angeprangerten Missstände begreifen will, wird ums Zeitunglesen nicht herumkommen. Eine herzige Hommage an diese Stadt, die man ihrer Bau- und Problemstellen zum Trotz ja doch irgendwie gut leiden kann, ist dem Renitenztheater aber allemal gelungen.